irgend ein Volk, das ganz ohne Religion wäre; so wäre selbst dieser Mangel von ihrem äußerst verwilderten Zustande Zeuge.
Woher kam nun Religion diesen Völkern? Hat jeder Elende sich seinen Gottesdienst etwa wie eine natürliche Theo- logie erfunden? Diese Mühseligen erfinden nichts; sie folgen in allem der Tradition ihrer Väter. Auch gab ihnen von außen zu dieser Erfindung nichts Anlaß: denn wenn sie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Thieren oder der Natur ablern- ten; welchem Thier, welchem Naturgegenstande sahen sie Re- ligion ab? von welchem derselben hätten sie Gottesdienst ge- lernet? Tradition ist also auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Cultur, so auch ihrer Religion und heiligen Gebräuche.
Sogleich folget hieraus, daß sich die religiöse Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als dessen sich die Vernunft und Sprache selbst bediente, der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt seyn will, muß jede Einrichtung ein sichtbares Zeichen haben, wenn sie für andre und für die Nachwelt seyn soll: wie konnte das Un- sichtbare sichtbar, oder eine verlebte Geschichte den Nachkom- men aufbehalten werden, als durch Worte oder Zeichen? Da- her ist auch bei den rohesten Völkern die Sprache der Religion immer die älteste, dunkelste Sprache, oft ihren Geweiheten
selbst,
irgend ein Volk, das ganz ohne Religion waͤre; ſo waͤre ſelbſt dieſer Mangel von ihrem aͤußerſt verwilderten Zuſtande Zeuge.
Woher kam nun Religion dieſen Voͤlkern? Hat jeder Elende ſich ſeinen Gottesdienſt etwa wie eine natuͤrliche Theo- logie erfunden? Dieſe Muͤhſeligen erfinden nichts; ſie folgen in allem der Tradition ihrer Vaͤter. Auch gab ihnen von außen zu dieſer Erfindung nichts Anlaß: denn wenn ſie Pfeil und Bogen, Angel und Kleid den Thieren oder der Natur ablern- ten; welchem Thier, welchem Naturgegenſtande ſahen ſie Re- ligion ab? von welchem derſelben haͤtten ſie Gottesdienſt ge- lernet? Tradition iſt alſo auch hier die fortpflanzende Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Cultur, ſo auch ihrer Religion und heiligen Gebraͤuche.
Sogleich folget hieraus, daß ſich die religioͤſe Tradition keines andern Mittels bedienen konnte, als deſſen ſich die Vernunft und Sprache ſelbſt bediente, der Symbole. Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt ſeyn will, muß jede Einrichtung ein ſichtbares Zeichen haben, wenn ſie fuͤr andre und fuͤr die Nachwelt ſeyn ſoll: wie konnte das Un- ſichtbare ſichtbar, oder eine verlebte Geſchichte den Nachkom- men aufbehalten werden, als durch Worte oder Zeichen? Da- her iſt auch bei den roheſten Voͤlkern die Sprache der Religion immer die aͤlteſte, dunkelſte Sprache, oft ihren Geweiheten
ſelbſt,
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irgend ein Volk, das ganz ohne Religion waͤre; ſo waͤre ſelbſt
dieſer Mangel von ihrem aͤußerſt verwilderten Zuſtande Zeuge.
Woher kam nun Religion dieſen Voͤlkern? Hat jeder
Elende ſich ſeinen Gottesdienſt etwa wie eine natuͤrliche Theo-
logie erfunden? Dieſe Muͤhſeligen erfinden nichts; ſie folgen
in allem der Tradition ihrer Vaͤter. Auch gab ihnen von außen
zu dieſer Erfindung nichts Anlaß: denn wenn ſie Pfeil und
Bogen, Angel und Kleid den Thieren oder der Natur ablern-
ten; welchem Thier, welchem Naturgegenſtande ſahen ſie Re-
ligion ab? von welchem derſelben haͤtten ſie Gottesdienſt ge-
lernet? Tradition iſt alſo auch hier die fortpflanzende
Mutter, wie ihrer Sprache und wenigen Cultur, ſo auch
ihrer Religion und heiligen Gebraͤuche.
Sogleich folget hieraus, daß ſich die religioͤſe Tradition
keines andern Mittels bedienen konnte, als deſſen ſich
die Vernunft und Sprache ſelbſt bediente, der Symbole.
Muß der Gedanke ein Wort werden, wenn er fortgepflanzt ſeyn
will, muß jede Einrichtung ein ſichtbares Zeichen haben, wenn
ſie fuͤr andre und fuͤr die Nachwelt ſeyn ſoll: wie konnte das Un-
ſichtbare ſichtbar, oder eine verlebte Geſchichte den Nachkom-
men aufbehalten werden, als durch Worte oder Zeichen? Da-
her iſt auch bei den roheſten Voͤlkern die Sprache der Religion
immer die aͤlteſte, dunkelſte Sprache, oft ihren Geweiheten
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/278>, abgerufen am 24.11.2024.
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