senschaft ein neues Band der Geselligkeit d. i. jenes gemein- schaftlichen Bedürfnißes geknüpft sei, ohne welches künstliche Menschen nicht mehr leben mögen. Ob aber gegenseitig jedes vermehrte Bedürfniß auch den engen Kreis der menschlichen Glückseligkeit erweitere? ob die Kunst der Natur je etwas wirklich zuzusetzen vermochte? oder ob diese vielmehr durch jene in manchem entübriget und entkräftet werde? ob alle wis- senschaftlichen und Künstlergaben nicht auch Neigungen in der menschlichen Brust rege gemacht hätten, bei denen man viel seltner und schwerer zur schönsten Gabe des Menschen, der Zu- friedenheit, gelangen kann, weil diese Neigungen mit ihrer in- neren Unruh der Zufriedenheit unaufhörlich widerstreben? Ja endlich, ob durch den Zusammendrang der Menschen und ihre vermehrte Geselligkeit nicht manche Länder und Städte zu ei- nem Armenhause, zu einem künstlichen Lazareth und Hospital worden sind, in dessen eingeschlossener Luft die blaße Mensch- heit auch künstlich siechet und da sie von so vielen unverdienten Almosen der Wissenschaft, Kunst und Staatsverfassung ernährt wird, großentheils auch die Art der Bettler angenommen habe, die sich auf alle Bettlerkünste legen und dafür der Bettler Schick- sal erdulden? über dies und so manches andre mehr soll uns die Tochter der Zeit, die helle Geschichte unterweisen.
Boten des Schicksals also, ihr Genien und Erfinder, auf welcher nutzbargefährlichen Höhe übtet ihr euren göttlichen
Beruf!
ſenſchaft ein neues Band der Geſelligkeit d. i. jenes gemein- ſchaftlichen Beduͤrfnißes geknuͤpft ſei, ohne welches kuͤnſtliche Menſchen nicht mehr leben moͤgen. Ob aber gegenſeitig jedes vermehrte Beduͤrfniß auch den engen Kreis der menſchlichen Gluͤckſeligkeit erweitere? ob die Kunſt der Natur je etwas wirklich zuzuſetzen vermochte? oder ob dieſe vielmehr durch jene in manchem entuͤbriget und entkraͤftet werde? ob alle wiſ- ſenſchaftlichen und Kuͤnſtlergaben nicht auch Neigungen in der menſchlichen Bruſt rege gemacht haͤtten, bei denen man viel ſeltner und ſchwerer zur ſchoͤnſten Gabe des Menſchen, der Zu- friedenheit, gelangen kann, weil dieſe Neigungen mit ihrer in- neren Unruh der Zufriedenheit unaufhoͤrlich widerſtreben? Ja endlich, ob durch den Zuſammendrang der Menſchen und ihre vermehrte Geſelligkeit nicht manche Laͤnder und Staͤdte zu ei- nem Armenhauſe, zu einem kuͤnſtlichen Lazareth und Hoſpital worden ſind, in deſſen eingeſchloſſener Luft die blaße Menſch- heit auch kuͤnſtlich ſiechet und da ſie von ſo vielen unverdienten Almoſen der Wiſſenſchaft, Kunſt und Staatsverfaſſung ernaͤhrt wird, großentheils auch die Art der Bettler angenommen habe, die ſich auf alle Bettlerkuͤnſte legen und dafuͤr der Bettler Schick- ſal erdulden? uͤber dies und ſo manches andre mehr ſoll uns die Tochter der Zeit, die helle Geſchichte unterweiſen.
Boten des Schickſals alſo, ihr Genien und Erfinder, auf welcher nutzbargefaͤhrlichen Hoͤhe uͤbtet ihr euren goͤttlichen
Beruf!
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ſenſchaft ein neues Band der Geſelligkeit d. i. jenes gemein-
ſchaftlichen Beduͤrfnißes geknuͤpft ſei, ohne welches kuͤnſtliche
Menſchen nicht mehr leben moͤgen. Ob aber gegenſeitig jedes
vermehrte Beduͤrfniß auch den engen Kreis der menſchlichen
Gluͤckſeligkeit erweitere? ob die Kunſt der Natur je etwas
wirklich zuzuſetzen vermochte? oder ob dieſe vielmehr durch
jene in manchem entuͤbriget und entkraͤftet werde? ob alle wiſ-
ſenſchaftlichen und Kuͤnſtlergaben nicht auch Neigungen in der
menſchlichen Bruſt rege gemacht haͤtten, bei denen man viel
ſeltner und ſchwerer zur ſchoͤnſten Gabe des Menſchen, der Zu-
friedenheit, gelangen kann, weil dieſe Neigungen mit ihrer in-
neren Unruh der Zufriedenheit unaufhoͤrlich widerſtreben? Ja
endlich, ob durch den Zuſammendrang der Menſchen und ihre
vermehrte Geſelligkeit nicht manche Laͤnder und Staͤdte zu ei-
nem Armenhauſe, zu einem kuͤnſtlichen Lazareth und Hoſpital
worden ſind, in deſſen eingeſchloſſener Luft die blaße Menſch-
heit auch kuͤnſtlich ſiechet und da ſie von ſo vielen unverdienten
Almoſen der Wiſſenſchaft, Kunſt und Staatsverfaſſung ernaͤhrt
wird, großentheils auch die Art der Bettler angenommen habe,
die ſich auf alle Bettlerkuͤnſte legen und dafuͤr der Bettler Schick-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/259>, abgerufen am 24.11.2024.
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