wachsen ist. Wenn du dem Otahiten ein Kriegsschiff zulenkst und auf den Hebriden eine Kanone donnerst, so bist du wahr- lich weder klüger noch geschickter, als der Hebride und Otahite, der sein Boot künstlich lenkt und sich dasselbe mit eigner Hand erbaute. Eben dies wars, was alle Wilden dunkel empfan- den, sobald sie die Europäer näher kennen lernten. Jn der Rüstung ihrer Werkzeuge dünkten sie ihnen unbekannte, hö- here Wesen, vor denen sie sich beugten, die sie mit Ehrfurcht grüßten; sobald sie sie verwundbar, sterblich, krankhaft und in sinnlichen Uebungen schwächer als sich selbst sahen, fürch- teten sie die Kunst und erwürgten den Mann, der nichts we- niger als mit seiner Kunst Eins war. Auf alle Cultur Euro- pa's ist dies anwendbar. Darum, weil die Sprache eines Volks, zumal in Büchern, gescheut und fein ist: darum ist nicht jeder fein und gescheut, der diese Bücher lieset und diese Sprache redet. Wie er sie lieset? wie er sie redet? das wäre die Frage; und auch dann dächte und spräche er immer doch nur nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft eines andern. Der Wilde der in seinem engern Kreise eigen- thümlich denkt und sich in ihm wahrer, bestimmter und nach- drücklicher ausdrückt, Er, der in der Sphäre seines wirklichen Lebens Sinne und Glieder, seinen praktischen Verstand und seine wenigen Werkzeuge mit Kunst und Gegenwart des Gei- stes zu gebrauchen weiß; offenbar ist er, Mensch gegen Mensch
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wachſen iſt. Wenn du dem Otahiten ein Kriegsſchiff zulenkſt und auf den Hebriden eine Kanone donnerſt, ſo biſt du wahr- lich weder kluͤger noch geſchickter, als der Hebride und Otahite, der ſein Boot kuͤnſtlich lenkt und ſich daſſelbe mit eigner Hand erbaute. Eben dies wars, was alle Wilden dunkel empfan- den, ſobald ſie die Europaͤer naͤher kennen lernten. Jn der Ruͤſtung ihrer Werkzeuge duͤnkten ſie ihnen unbekannte, hoͤ- here Weſen, vor denen ſie ſich beugten, die ſie mit Ehrfurcht gruͤßten; ſobald ſie ſie verwundbar, ſterblich, krankhaft und in ſinnlichen Uebungen ſchwaͤcher als ſich ſelbſt ſahen, fuͤrch- teten ſie die Kunſt und erwuͤrgten den Mann, der nichts we- niger als mit ſeiner Kunſt Eins war. Auf alle Cultur Euro- pa's iſt dies anwendbar. Darum, weil die Sprache eines Volks, zumal in Buͤchern, geſcheut und fein iſt: darum iſt nicht jeder fein und geſcheut, der dieſe Buͤcher lieſet und dieſe Sprache redet. Wie er ſie lieſet? wie er ſie redet? das waͤre die Frage; und auch dann daͤchte und ſpraͤche er immer doch nur nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft eines andern. Der Wilde der in ſeinem engern Kreiſe eigen- thuͤmlich denkt und ſich in ihm wahrer, beſtimmter und nach- druͤcklicher ausdruͤckt, Er, der in der Sphaͤre ſeines wirklichen Lebens Sinne und Glieder, ſeinen praktiſchen Verſtand und ſeine wenigen Werkzeuge mit Kunſt und Gegenwart des Gei- ſtes zu gebrauchen weiß; offenbar iſt er, Menſch gegen Menſch
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wachſen iſt. Wenn du dem Otahiten ein Kriegsſchiff zulenkſt
und auf den Hebriden eine Kanone donnerſt, ſo biſt du wahr-
lich weder kluͤger noch geſchickter, als der Hebride und Otahite,
der ſein Boot kuͤnſtlich lenkt und ſich daſſelbe mit eigner Hand
erbaute. Eben dies wars, was alle Wilden dunkel empfan-
den, ſobald ſie die Europaͤer naͤher kennen lernten. Jn der
Ruͤſtung ihrer Werkzeuge duͤnkten ſie ihnen unbekannte, hoͤ-
here Weſen, vor denen ſie ſich beugten, die ſie mit Ehrfurcht
gruͤßten; ſobald ſie ſie verwundbar, ſterblich, krankhaft und
in ſinnlichen Uebungen ſchwaͤcher als ſich ſelbſt ſahen, fuͤrch-
teten ſie die Kunſt und erwuͤrgten den Mann, der nichts we-
niger als mit ſeiner Kunſt Eins war. Auf alle Cultur Euro-
pa's iſt dies anwendbar. Darum, weil die Sprache eines
Volks, zumal in Buͤchern, geſcheut und fein iſt: darum iſt
nicht jeder fein und geſcheut, der dieſe Buͤcher lieſet und dieſe
Sprache redet. Wie er ſie lieſet? wie er ſie redet? das waͤre
die Frage; und auch dann daͤchte und ſpraͤche er immer doch
nur nach: er folgt den Gedanken und der Bezeichnungskraft
eines andern. Der Wilde der in ſeinem engern Kreiſe eigen-
thuͤmlich denkt und ſich in ihm wahrer, beſtimmter und nach-
druͤcklicher ausdruͤckt, Er, der in der Sphaͤre ſeines wirklichen
Lebens Sinne und Glieder, ſeinen praktiſchen Verſtand und
ſeine wenigen Werkzeuge mit Kunſt und Gegenwart des Gei-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 245. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/257>, abgerufen am 24.11.2024.
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