anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zurückführe: denn eben dies ist das wahre Göttliche im Menschen, sein charakte- ristischer Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; sie denken in der Vernunft andrer und sind nur nachahmend weise: denn ist der, der die Kunst fremder Künstler gebraucht, darum selbst Künstler? Aber der, in dessen Seele sich eigne Gedanken er- zeugen und einen Körper sich selbst bilden, Er, der nicht mit dem Auge allein sondern mit dem Geist siehet und nicht mit der Zunge sondern mit der Seele bezeichnet, Er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungsstäte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wir- kungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem menschlichen Zweck anzuwenden; er ist der eigentliche Mensch und da er selten erscheint, ein Gott unter den Menschen. Er spricht und tausende lallen ihm nach: er erschafft und andre spielen mit dem was er hervorbrachte: er war ein Mann und vielleicht sind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie selten die Erfinder im menschlichen Geschlecht gewesen, wie träge und läßig man an dem hängt, was man hat, ohne sich um das zu bekümmern, was uns fehlet; in hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt und die Geschichte der Völker; ja die Geschichte der Cultur wird es uns selbst gnug- sam weisen.
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anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zuruͤckfuͤhre: denn eben dies iſt das wahre Goͤttliche im Menſchen, ſein charakte- riſtiſcher Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; ſie denken in der Vernunft andrer und ſind nur nachahmend weiſe: denn iſt der, der die Kunſt fremder Kuͤnſtler gebraucht, darum ſelbſt Kuͤnſtler? Aber der, in deſſen Seele ſich eigne Gedanken er- zeugen und einen Koͤrper ſich ſelbſt bilden, Er, der nicht mit dem Auge allein ſondern mit dem Geiſt ſiehet und nicht mit der Zunge ſondern mit der Seele bezeichnet, Er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schoͤpfungsſtaͤte zu belauſchen, neue Merkmale ihrer Wir- kungen auszuſpaͤhen und ſie durch kuͤnſtliche Werkzeuge zu einem menſchlichen Zweck anzuwenden; er iſt der eigentliche Menſch und da er ſelten erſcheint, ein Gott unter den Menſchen. Er ſpricht und tauſende lallen ihm nach: er erſchafft und andre ſpielen mit dem was er hervorbrachte: er war ein Mann und vielleicht ſind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie ſelten die Erfinder im menſchlichen Geſchlecht geweſen, wie traͤge und laͤßig man an dem haͤngt, was man hat, ohne ſich um das zu bekuͤmmern, was uns fehlet; in hundert Proben zeigt uns dies der Anblick der Welt und die Geſchichte der Voͤlker; ja die Geſchichte der Cultur wird es uns ſelbſt gnug- ſam weiſen.
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anerkennenden und bezeichnenden Vernunft zuruͤckfuͤhre: denn
eben dies iſt das wahre Goͤttliche im Menſchen, ſein charakte-
riſtiſcher Vorzug. Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen,
gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; ſie denken
in der Vernunft andrer und ſind nur nachahmend weiſe: denn
iſt der, der die Kunſt fremder Kuͤnſtler gebraucht, darum ſelbſt
Kuͤnſtler? Aber der, in deſſen Seele ſich eigne Gedanken er-
zeugen und einen Koͤrper ſich ſelbſt bilden, Er, der nicht mit dem
Auge allein ſondern mit dem Geiſt ſiehet und nicht mit der Zunge
ſondern mit der Seele bezeichnet, Er, dem es gelingt, die Natur in
ihrer Schoͤpfungsſtaͤte zu belauſchen, neue Merkmale ihrer Wir-
kungen auszuſpaͤhen und ſie durch kuͤnſtliche Werkzeuge zu einem
menſchlichen Zweck anzuwenden; er iſt der eigentliche Menſch
und da er ſelten erſcheint, ein Gott unter den Menſchen. Er
ſpricht und tauſende lallen ihm nach: er erſchafft und andre
ſpielen mit dem was er hervorbrachte: er war ein Mann und
vielleicht ſind Jahrhunderte nach ihm wiederum Kinder. Wie
ſelten die Erfinder im menſchlichen Geſchlecht geweſen, wie
traͤge und laͤßig man an dem haͤngt, was man hat, ohne ſich
um das zu bekuͤmmern, was uns fehlet; in hundert Proben
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/255>, abgerufen am 24.11.2024.
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