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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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Eine ähnliche Arbeit wäre die Geschichte der Sprache
einiger einzelnen Völker nach ihren Revolutionen; wobei ich
insonderheit die Sprache unsres Vaterlandes für uns zum Bei-
spiel nehme. Denn ob sie gleich nicht, wie andre, mit fremden
Sprachen vermischt worden: so hat sie sich dennoch wesentlich,
und selbst der Grammatik nach, von Ottfrieds Zeiten her ver-
ändert. Die Gegeneinanderstellung verschiedner cultivirter
Sprachen mit den verschiednen Revolutionen ihrer Völker
würde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichsam ein
wandelbares Gemählde der mannichfaltigen Fortbildung des
menschlichen Geistes zeigen, der, wie ich glaube, seinen verschied-
nen Mundarten nach noch in allen seinen Zeitaltern auf der
Erde blühet. Da sind Nationen in der Kindheit, der Jugend,
dem männlichen und hohen Alter unsres Geschlechts; ja wie
manche Völker und Sprachen sind durch Einimpfung andrer
oder wie aus der Asche entstanden!

Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift.
Wenn Sprache das Mittel der menschlichen Bildung unsres
Geschlechts ist, so ist Schrift das Mittel der gelehrten Bil-
dung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieser künstlichen
Tradition lagen, sind nach unsern Begriffen uncultivirt ge-
blieben; die daran auch nur unvollkommen Theilnahmen, er-
hoben sich zu einer Verewigung der Vernunft und der Gesetze

in

Eine aͤhnliche Arbeit waͤre die Geſchichte der Sprache
einiger einzelnen Voͤlker nach ihren Revolutionen; wobei ich
inſonderheit die Sprache unſres Vaterlandes fuͤr uns zum Bei-
ſpiel nehme. Denn ob ſie gleich nicht, wie andre, mit fremden
Sprachen vermiſcht worden: ſo hat ſie ſich dennoch weſentlich,
und ſelbſt der Grammatik nach, von Ottfrieds Zeiten her ver-
aͤndert. Die Gegeneinanderſtellung verſchiedner cultivirter
Sprachen mit den verſchiednen Revolutionen ihrer Voͤlker
wuͤrde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichſam ein
wandelbares Gemaͤhlde der mannichfaltigen Fortbildung des
menſchlichen Geiſtes zeigen, der, wie ich glaube, ſeinen verſchied-
nen Mundarten nach noch in allen ſeinen Zeitaltern auf der
Erde bluͤhet. Da ſind Nationen in der Kindheit, der Jugend,
dem maͤnnlichen und hohen Alter unſres Geſchlechts; ja wie
manche Voͤlker und Sprachen ſind durch Einimpfung andrer
oder wie aus der Aſche entſtanden!

Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift.
Wenn Sprache das Mittel der menſchlichen Bildung unſres
Geſchlechts iſt, ſo iſt Schrift das Mittel der gelehrten Bil-
dung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieſer kuͤnſtlichen
Tradition lagen, ſind nach unſern Begriffen uncultivirt ge-
blieben; die daran auch nur unvollkommen Theilnahmen, er-
hoben ſich zu einer Verewigung der Vernunft und der Geſetze

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[238/0250] Eine aͤhnliche Arbeit waͤre die Geſchichte der Sprache einiger einzelnen Voͤlker nach ihren Revolutionen; wobei ich inſonderheit die Sprache unſres Vaterlandes fuͤr uns zum Bei- ſpiel nehme. Denn ob ſie gleich nicht, wie andre, mit fremden Sprachen vermiſcht worden: ſo hat ſie ſich dennoch weſentlich, und ſelbſt der Grammatik nach, von Ottfrieds Zeiten her ver- aͤndert. Die Gegeneinanderſtellung verſchiedner cultivirter Sprachen mit den verſchiednen Revolutionen ihrer Voͤlker wuͤrde mit jedem Strich von Licht und Schatten gleichſam ein wandelbares Gemaͤhlde der mannichfaltigen Fortbildung des menſchlichen Geiſtes zeigen, der, wie ich glaube, ſeinen verſchied- nen Mundarten nach noch in allen ſeinen Zeitaltern auf der Erde bluͤhet. Da ſind Nationen in der Kindheit, der Jugend, dem maͤnnlichen und hohen Alter unſres Geſchlechts; ja wie manche Voͤlker und Sprachen ſind durch Einimpfung andrer oder wie aus der Aſche entſtanden! Endlich die Tradition der Traditionen, die Schrift. Wenn Sprache das Mittel der menſchlichen Bildung unſres Geſchlechts iſt, ſo iſt Schrift das Mittel der gelehrten Bil- dung. Alle Nationen, die außer dem Wege dieſer kuͤnſtlichen Tradition lagen, ſind nach unſern Begriffen uncultivirt ge- blieben; die daran auch nur unvollkommen Theilnahmen, er- hoben ſich zu einer Verewigung der Vernunft und der Geſetze in

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/250>, abgerufen am 24.11.2024.