ist sodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn sie sollte den Beobachter nur aufmerksam machen und ihn zum eignen, thätigen Gebrauch seiner Seelenkräfte leiten. Ein feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenstral könnte theils nicht allgemein seyn, theils wäre es für die jetzige Sphäre unsrer gröbern Thätigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches ists mit der Sprache des Herzens: sie kann wenig sagen und doch sagt sie gnug; ja gewissermaasse ist unsre menschliche Sprache mehr für das Herz, als für die Vernunft geschaffen. Dem Verstande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache selbst zu Hülfe kommen; die Empfindungen unseres Herzens aber bleiben in unserer Brust vergraben, wenn der melodische Strom sie nicht in sanften Wellen zum Herzen des andern hinüber brächte. Auch darum also hat der Schöpfer die Musik der Töne zum Organ unsrer Bildung gewählt; eine Sprache für die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun- dessprache. Geschöpfe, die sich einander noch nicht innig be- rühren können, stehn wie hinter Gegittern und flüstern ein- ander zu das Wort der Liebe; bei Wesen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs sprächen, veränderte sich noth- wendig die ganze Gestalt und Kette ihrer Bildung.
Zweitens. Der schönste Versuch über die Geschichte und mannichfaltige Charakteristik des menschlichen Verstandes
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iſt ſodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn ſie ſollte den Beobachter nur aufmerkſam machen und ihn zum eignen, thaͤtigen Gebrauch ſeiner Seelenkraͤfte leiten. Ein feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenſtral koͤnnte theils nicht allgemein ſeyn, theils waͤre es fuͤr die jetzige Sphaͤre unſrer groͤbern Thaͤtigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches iſts mit der Sprache des Herzens: ſie kann wenig ſagen und doch ſagt ſie gnug; ja gewiſſermaaſſe iſt unſre menſchliche Sprache mehr fuͤr das Herz, als fuͤr die Vernunft geſchaffen. Dem Verſtande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache ſelbſt zu Huͤlfe kommen; die Empfindungen unſeres Herzens aber bleiben in unſerer Bruſt vergraben, wenn der melodiſche Strom ſie nicht in ſanften Wellen zum Herzen des andern hinuͤber braͤchte. Auch darum alſo hat der Schoͤpfer die Muſik der Toͤne zum Organ unſrer Bildung gewaͤhlt; eine Sprache fuͤr die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun- desſprache. Geſchoͤpfe, die ſich einander noch nicht innig be- ruͤhren koͤnnen, ſtehn wie hinter Gegittern und fluͤſtern ein- ander zu das Wort der Liebe; bei Weſen, die die Sprache des Lichts oder eines andern Organs ſpraͤchen, veraͤnderte ſich noth- wendig die ganze Geſtalt und Kette ihrer Bildung.
Zweitens. Der ſchoͤnſte Verſuch uͤber die Geſchichte und mannichfaltige Charakteriſtik des menſchlichen Verſtandes
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iſt ſodann die Sprache mit allen ihren Schranken gnug: denn
ſie ſollte den Beobachter nur aufmerkſam machen und ihn zum
eignen, thaͤtigen Gebrauch ſeiner Seelenkraͤfte leiten. Ein
feineres Jdiom, durchdringend wie der Sonnenſtral koͤnnte
theils nicht allgemein ſeyn, theils waͤre es fuͤr die jetzige Sphaͤre
unſrer groͤbern Thaͤtigkeit ein wahres Uebel. Ein gleiches iſts
mit der Sprache des Herzens: ſie kann wenig ſagen und doch
ſagt ſie gnug; ja gewiſſermaaſſe iſt unſre menſchliche Sprache
mehr fuͤr das Herz, als fuͤr die Vernunft geſchaffen. Dem
Verſtande kann die Gebehrde, die Bewegung, die Sache ſelbſt
zu Huͤlfe kommen; die Empfindungen unſeres Herzens aber
bleiben in unſerer Bruſt vergraben, wenn der melodiſche Strom
ſie nicht in ſanften Wellen zum Herzen des andern hinuͤber
braͤchte. Auch darum alſo hat der Schoͤpfer die Muſik der
Toͤne zum Organ unſrer Bildung gewaͤhlt; eine Sprache fuͤr
die Empfindung, eine Vater- und Mutter- Kindes- und Freun-
desſprache. Geſchoͤpfe, die ſich einander noch nicht innig be-
ruͤhren koͤnnen, ſtehn wie hinter Gegittern und fluͤſtern ein-
ander zu das Wort der Liebe; bei Weſen, die die Sprache des
Lichts oder eines andern Organs ſpraͤchen, veraͤnderte ſich noth-
wendig die ganze Geſtalt und Kette ihrer Bildung.
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/247>, abgerufen am 25.11.2024.
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