wohl, Jrrthum und Meinung, wir sind im Lande der Wahr- heit. Jetzt aber wie fern sind wir demselben, auch wenn wir dicht an ihm zu stehen glauben, da, was ich von einer Sache weiß, nur ein äußeres abgerissenes Symbol derselben ist, in ein anderes willkührliches Symbol gekleidet. Verstehet mich der andre? verbindet er mit dem Wort die Jdee, die ich da- mit verband oder verbindet er gar keine? Er rechnet indessen mit dem Wort weiter und giebt es andern vielleicht gar als eine leere Nußschaale. So gings bei allen philosophischen Secten und Religionen. Der Urheber hatte von dem was er sprach, wenigstens klaren, obgleich darum noch nicht wah- ren Begrif; seine Schüler und Nachfolger verstanden ihn auf ihre Weise, d. i. sie belebten mit ihren Jdeen seine Worte und zuletzt tönten nur leere Schälle um das Ohr der Men- schen. Lauter Unvollkommenheiten, die in unserm einzigen Mittel der Fortpflanzung menschlicher Gedanken liegen; und doch sind wir mit unsrer Bildung an diese Kette geknüpft: sie ist uns unentweichbar.
Große Folgen liegen hierinn für die Geschichte der Menschheit. Zuerst: Schwerlich kann unser Geschlecht nach diesem von der Gottheit erwählten Mittel der Bildung für die blosse Spekulation oder für die reine Anschauung ge- macht seyn: denn beyde liegen sehr unvollkommen in unserm
Kreise.
wohl, Jrrthum und Meinung, wir ſind im Lande der Wahr- heit. Jetzt aber wie fern ſind wir demſelben, auch wenn wir dicht an ihm zu ſtehen glauben, da, was ich von einer Sache weiß, nur ein aͤußeres abgeriſſenes Symbol derſelben iſt, in ein anderes willkuͤhrliches Symbol gekleidet. Verſtehet mich der andre? verbindet er mit dem Wort die Jdee, die ich da- mit verband oder verbindet er gar keine? Er rechnet indeſſen mit dem Wort weiter und giebt es andern vielleicht gar als eine leere Nußſchaale. So gings bei allen philoſophiſchen Secten und Religionen. Der Urheber hatte von dem was er ſprach, wenigſtens klaren, obgleich darum noch nicht wah- ren Begrif; ſeine Schuͤler und Nachfolger verſtanden ihn auf ihre Weiſe, d. i. ſie belebten mit ihren Jdeen ſeine Worte und zuletzt toͤnten nur leere Schaͤlle um das Ohr der Men- ſchen. Lauter Unvollkommenheiten, die in unſerm einzigen Mittel der Fortpflanzung menſchlicher Gedanken liegen; und doch ſind wir mit unſrer Bildung an dieſe Kette geknuͤpft: ſie iſt uns unentweichbar.
Große Folgen liegen hierinn fuͤr die Geſchichte der Menſchheit. Zuerſt: Schwerlich kann unſer Geſchlecht nach dieſem von der Gottheit erwaͤhlten Mittel der Bildung fuͤr die bloſſe Spekulation oder fuͤr die reine Anſchauung ge- macht ſeyn: denn beyde liegen ſehr unvollkommen in unſerm
Kreiſe.
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wohl, Jrrthum und Meinung, wir ſind im Lande der Wahr-
heit. Jetzt aber wie fern ſind wir demſelben, auch wenn wir
dicht an ihm zu ſtehen glauben, da, was ich von einer Sache
weiß, nur ein aͤußeres abgeriſſenes Symbol derſelben iſt, in
ein anderes willkuͤhrliches Symbol gekleidet. Verſtehet mich
der andre? verbindet er mit dem Wort die Jdee, die ich da-
mit verband oder verbindet er gar keine? Er rechnet indeſſen
mit dem Wort weiter und giebt es andern vielleicht gar als
eine leere Nußſchaale. So gings bei allen philoſophiſchen
Secten und Religionen. Der Urheber hatte von dem was
er ſprach, wenigſtens klaren, obgleich darum noch nicht wah-
ren Begrif; ſeine Schuͤler und Nachfolger verſtanden ihn
auf ihre Weiſe, d. i. ſie belebten mit ihren Jdeen ſeine Worte
und zuletzt toͤnten nur leere Schaͤlle um das Ohr der Men-
ſchen. Lauter Unvollkommenheiten, die in unſerm einzigen
Mittel der Fortpflanzung menſchlicher Gedanken liegen; und
doch ſind wir mit unſrer Bildung an dieſe Kette geknuͤpft: ſie
iſt uns unentweichbar.
Große Folgen liegen hierinn fuͤr die Geſchichte der
Menſchheit. Zuerſt: Schwerlich kann unſer Geſchlecht
nach dieſem von der Gottheit erwaͤhlten Mittel der Bildung
fuͤr die bloſſe Spekulation oder fuͤr die reine Anſchauung ge-
macht ſeyn: denn beyde liegen ſehr unvollkommen in unſerm
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 231. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/243>, abgerufen am 25.11.2024.
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