Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

Bild:
<< vorherige Seite

nen sollen, diese Bestimmung auch als Lehrer unsres Geschlechts
gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Absicht
des Werkmeisters in ihm läugnen? und wer das künstliche
Gebilde unsrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde
vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen können, daß nicht
auch in Absicht der geistigen Erziehung die klimatische Diver-
sität der vielartigen Menschen ein Zweck der Erdeschöpfung
gewesen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus-
macht, indem lebendige, uns ähnliche Wesen dazu gehören,
uns zu unterrichten, zu gewöhnen, zu bilden; mich dünkt, so
giebt es eine Erziehung des Menschengeschlechts und eine Phi-
losophie seiner Geschichte so gewiß, so wahr es eine Mensch-
heit d. i. eine Zusammenwirkung der Jndividuen giebt, die
uns allein zu Menschen machte.

Sofort werden uns auch die Principien dieser Philoso-
phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge-
schichte des Menschen selbst ist; sie heißen Tradition und or-
ganische Kräfte.
Alle Erziehung kann nur durch Nachah-
mung und Uebung, also durch Uebergang des Vorbildes ins
Nachbild werden; und wie könnten wir dies besser als Ueber-
lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kräfte haben,
das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie
die Speise, durch die er lebt, in seine Natur zu verwandeln.
Von wem er also? was und wie viel er aufnehme? wie ers

sich

nen ſollen, dieſe Beſtimmung auch als Lehrer unſres Geſchlechts
gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Abſicht
des Werkmeiſters in ihm laͤugnen? und wer das kuͤnſtliche
Gebilde unſrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde
vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen koͤnnen, daß nicht
auch in Abſicht der geiſtigen Erziehung die klimatiſche Diver-
ſitaͤt der vielartigen Menſchen ein Zweck der Erdeſchoͤpfung
geweſen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus-
macht, indem lebendige, uns aͤhnliche Weſen dazu gehoͤren,
uns zu unterrichten, zu gewoͤhnen, zu bilden; mich duͤnkt, ſo
giebt es eine Erziehung des Menſchengeſchlechts und eine Phi-
loſophie ſeiner Geſchichte ſo gewiß, ſo wahr es eine Menſch-
heit d. i. eine Zuſammenwirkung der Jndividuen giebt, die
uns allein zu Menſchen machte.

Sofort werden uns auch die Principien dieſer Philoſo-
phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge-
ſchichte des Menſchen ſelbſt iſt; ſie heißen Tradition und or-
ganiſche Kraͤfte.
Alle Erziehung kann nur durch Nachah-
mung und Uebung, alſo durch Uebergang des Vorbildes ins
Nachbild werden; und wie koͤnnten wir dies beſſer als Ueber-
lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kraͤfte haben,
das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie
die Speiſe, durch die er lebt, in ſeine Natur zu verwandeln.
Von wem er alſo? was und wie viel er aufnehme? wie ers

ſich
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0226" n="214"/>
nen &#x017F;ollen, die&#x017F;e Be&#x017F;timmung auch als Lehrer un&#x017F;res Ge&#x017F;chlechts<lb/>
gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Ab&#x017F;icht<lb/>
des Werkmei&#x017F;ters in ihm la&#x0364;ugnen? und wer das ku&#x0364;n&#x017F;tliche<lb/>
Gebilde un&#x017F;rer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde<lb/>
vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen ko&#x0364;nnen, daß nicht<lb/>
auch in Ab&#x017F;icht der gei&#x017F;tigen Erziehung die klimati&#x017F;che Diver-<lb/>
&#x017F;ita&#x0364;t der vielartigen Men&#x017F;chen ein Zweck der Erde&#x017F;cho&#x0364;pfung<lb/>
gewe&#x017F;en? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus-<lb/>
macht, indem lebendige, uns a&#x0364;hnliche We&#x017F;en dazu geho&#x0364;ren,<lb/>
uns zu unterrichten, zu gewo&#x0364;hnen, zu bilden; mich du&#x0364;nkt, &#x017F;o<lb/>
giebt es eine Erziehung des Men&#x017F;chenge&#x017F;chlechts und eine Phi-<lb/>
lo&#x017F;ophie &#x017F;einer Ge&#x017F;chichte &#x017F;o gewiß, &#x017F;o wahr es eine Men&#x017F;ch-<lb/>
heit d. i. eine Zu&#x017F;ammenwirkung der Jndividuen giebt, die<lb/>
uns allein zu Men&#x017F;chen machte.</p><lb/>
          <p>Sofort werden uns auch die Principien die&#x017F;er Philo&#x017F;o-<lb/>
phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge-<lb/>
&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t; &#x017F;ie heißen <hi rendition="#fr">Tradition und or-<lb/>
gani&#x017F;che Kra&#x0364;fte.</hi> Alle Erziehung kann nur durch Nachah-<lb/>
mung und Uebung, al&#x017F;o durch Uebergang des Vorbildes ins<lb/>
Nachbild werden; und wie ko&#x0364;nnten wir dies be&#x017F;&#x017F;er als Ueber-<lb/>
lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kra&#x0364;fte haben,<lb/>
das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie<lb/>
die Spei&#x017F;e, durch die er lebt, in &#x017F;eine Natur zu verwandeln.<lb/>
Von wem er al&#x017F;o? was und wie viel er aufnehme? wie ers<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ich</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[214/0226] nen ſollen, dieſe Beſtimmung auch als Lehrer unſres Geſchlechts gemacht habe? Wird, wer ein Schiff betrachtet, eine Abſicht des Werkmeiſters in ihm laͤugnen? und wer das kuͤnſtliche Gebilde unſrer Natur mit jedem Klima der bewohnbaren Erde vergleicht, wird er dem Gedanken entfliehen koͤnnen, daß nicht auch in Abſicht der geiſtigen Erziehung die klimatiſche Diver- ſitaͤt der vielartigen Menſchen ein Zweck der Erdeſchoͤpfung geweſen? Da aber der Wohnplatz allein noch nicht Alles aus- macht, indem lebendige, uns aͤhnliche Weſen dazu gehoͤren, uns zu unterrichten, zu gewoͤhnen, zu bilden; mich duͤnkt, ſo giebt es eine Erziehung des Menſchengeſchlechts und eine Phi- loſophie ſeiner Geſchichte ſo gewiß, ſo wahr es eine Menſch- heit d. i. eine Zuſammenwirkung der Jndividuen giebt, die uns allein zu Menſchen machte. Sofort werden uns auch die Principien dieſer Philoſo- phie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturge- ſchichte des Menſchen ſelbſt iſt; ſie heißen Tradition und or- ganiſche Kraͤfte. Alle Erziehung kann nur durch Nachah- mung und Uebung, alſo durch Uebergang des Vorbildes ins Nachbild werden; und wie koͤnnten wir dies beſſer als Ueber- lieferung nennen? der Nachahmende aber muß Kraͤfte haben, das Mitgetheilte und Mittheilbare aufzunehmen und es, wie die Speiſe, durch die er lebt, in ſeine Natur zu verwandeln. Von wem er alſo? was und wie viel er aufnehme? wie ers ſich

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/226
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/226>, abgerufen am 27.11.2024.