als mit dem Ganzen: so wäre mir abermals die Natur des Menschen und seine helle Geschichte entgegen: denn kein ein- zelner von uns ist durch sich selbst Mensch worden. Das gan- ze Gebilde der Humanität in ihm hängt durch eine geistige Genesis, die Erziehung, mit seinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umständen im Lauf seines Lebens, also mit seinem Volk und den Vätern desselben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geschlechts zusammen, das irgend in einem Gliede Eine seiner Seelenkräfte berührte. So werden Völker zu- letzt Familien: Familien gehen zu Stammvätern hinauf: der Strom der Geschichte enget sich bis zu seinem Quell und der ganze Wohnplatz unsrer Erde verwandelt sich endlich in ein Erziehungshaus unsrer Familie zwar mit vielen Abtheilungen, Classen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lec- tionen, der sich mit mancherlei Zusätzen und Verändrungen durch alle Geschlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wirs nun dem eingeschränkten Verstande eines Lehrers zu, daß er die Abtheilungen seiner Schüler nicht ohne Grund machte und finden, daß das Menschengeschlecht auf der Erde allenthalben und zwar den Bedürfnissen seiner Zeit und Wohnung gemäß eine Art künstlicher Erziehung finde: welcher Verständige, der den Bau unsrer Erde und das Verhältniß der Menschen zu ihm betrachtet, wird nicht vermuthen, daß der Vater unsres Geschlechts, der bestimmt hat, wie lange und weit Nationen
woh-
D d 3
als mit dem Ganzen: ſo waͤre mir abermals die Natur des Menſchen und ſeine helle Geſchichte entgegen: denn kein ein- zelner von uns iſt durch ſich ſelbſt Menſch worden. Das gan- ze Gebilde der Humanitaͤt in ihm haͤngt durch eine geiſtige Geneſis, die Erziehung, mit ſeinen Eltern, Lehrern, Freunden, mit allen Umſtaͤnden im Lauf ſeines Lebens, alſo mit ſeinem Volk und den Vaͤtern deſſelben, ja endlich mit der ganzen Kette des Geſchlechts zuſammen, das irgend in einem Gliede Eine ſeiner Seelenkraͤfte beruͤhrte. So werden Voͤlker zu- letzt Familien: Familien gehen zu Stammvaͤtern hinauf: der Strom der Geſchichte enget ſich bis zu ſeinem Quell und der ganze Wohnplatz unſrer Erde verwandelt ſich endlich in ein Erziehungshaus unſrer Familie zwar mit vielen Abtheilungen, Claſſen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lec- tionen, der ſich mit mancherlei Zuſaͤtzen und Veraͤndrungen durch alle Geſchlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wirs nun dem eingeſchraͤnkten Verſtande eines Lehrers zu, daß er die Abtheilungen ſeiner Schuͤler nicht ohne Grund machte und finden, daß das Menſchengeſchlecht auf der Erde allenthalben und zwar den Beduͤrfniſſen ſeiner Zeit und Wohnung gemaͤß eine Art kuͤnſtlicher Erziehung finde: welcher Verſtaͤndige, der den Bau unſrer Erde und das Verhaͤltniß der Menſchen zu ihm betrachtet, wird nicht vermuthen, daß der Vater unſres Geſchlechts, der beſtimmt hat, wie lange und weit Nationen
woh-
D d 3
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0225"n="213"/>
als mit dem Ganzen: ſo waͤre mir abermals die Natur des<lb/>
Menſchen und ſeine helle Geſchichte entgegen: denn kein ein-<lb/>
zelner von uns iſt durch ſich ſelbſt Menſch worden. Das gan-<lb/>
ze Gebilde der Humanitaͤt in ihm haͤngt durch eine geiſtige<lb/>
Geneſis, die Erziehung, mit ſeinen Eltern, Lehrern, Freunden,<lb/>
mit allen Umſtaͤnden im Lauf ſeines Lebens, alſo mit ſeinem<lb/>
Volk und den Vaͤtern deſſelben, ja endlich mit der ganzen<lb/>
Kette des Geſchlechts zuſammen, das irgend in einem Gliede<lb/>
Eine ſeiner Seelenkraͤfte beruͤhrte. So werden Voͤlker zu-<lb/>
letzt Familien: Familien gehen zu Stammvaͤtern hinauf: der<lb/>
Strom der Geſchichte enget ſich bis zu ſeinem Quell und der<lb/>
ganze Wohnplatz unſrer Erde verwandelt ſich endlich in ein<lb/>
Erziehungshaus unſrer Familie zwar mit vielen Abtheilungen,<lb/>
Claſſen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lec-<lb/>
tionen, der ſich mit mancherlei Zuſaͤtzen und Veraͤndrungen<lb/>
durch alle Geſchlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wirs<lb/>
nun dem eingeſchraͤnkten Verſtande eines Lehrers zu, daß er<lb/>
die Abtheilungen ſeiner Schuͤler nicht ohne Grund machte und<lb/>
finden, daß das Menſchengeſchlecht auf der Erde allenthalben<lb/>
und zwar den Beduͤrfniſſen ſeiner Zeit und Wohnung gemaͤß<lb/>
eine Art kuͤnſtlicher Erziehung finde: welcher Verſtaͤndige,<lb/>
der den Bau unſrer Erde und das Verhaͤltniß der Menſchen<lb/>
zu ihm betrachtet, wird nicht vermuthen, daß der Vater unſres<lb/>
Geſchlechts, der beſtimmt hat, wie lange und weit Nationen<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D d 3</fw><fwplace="bottom"type="catch">woh-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[213/0225]
als mit dem Ganzen: ſo waͤre mir abermals die Natur des
Menſchen und ſeine helle Geſchichte entgegen: denn kein ein-
zelner von uns iſt durch ſich ſelbſt Menſch worden. Das gan-
ze Gebilde der Humanitaͤt in ihm haͤngt durch eine geiſtige
Geneſis, die Erziehung, mit ſeinen Eltern, Lehrern, Freunden,
mit allen Umſtaͤnden im Lauf ſeines Lebens, alſo mit ſeinem
Volk und den Vaͤtern deſſelben, ja endlich mit der ganzen
Kette des Geſchlechts zuſammen, das irgend in einem Gliede
Eine ſeiner Seelenkraͤfte beruͤhrte. So werden Voͤlker zu-
letzt Familien: Familien gehen zu Stammvaͤtern hinauf: der
Strom der Geſchichte enget ſich bis zu ſeinem Quell und der
ganze Wohnplatz unſrer Erde verwandelt ſich endlich in ein
Erziehungshaus unſrer Familie zwar mit vielen Abtheilungen,
Claſſen und Kammern, aber doch nach Einem Typus der Lec-
tionen, der ſich mit mancherlei Zuſaͤtzen und Veraͤndrungen
durch alle Geſchlechter vom Urvater heraberbte. Trauen wirs
nun dem eingeſchraͤnkten Verſtande eines Lehrers zu, daß er
die Abtheilungen ſeiner Schuͤler nicht ohne Grund machte und
finden, daß das Menſchengeſchlecht auf der Erde allenthalben
und zwar den Beduͤrfniſſen ſeiner Zeit und Wohnung gemaͤß
eine Art kuͤnſtlicher Erziehung finde: welcher Verſtaͤndige,
der den Bau unſrer Erde und das Verhaͤltniß der Menſchen
zu ihm betrachtet, wird nicht vermuthen, daß der Vater unſres
Geſchlechts, der beſtimmt hat, wie lange und weit Nationen
woh-
D d 3
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/225>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.