selligkeit und bildenden Tradition vom Ersten bis zum letzten Gliede.
Es giebt also eine Erziehung des Menschengeschlechts; eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand sagte, daß nicht der einzelne Mensch sondern das Geschlecht erzogen werde, so spräche er für mich unverständlich, da Geschlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe sind, außer sofern sie in einzelnen Wesen exsistiren. Gäbe ich diesem allgemeinen Begrif nun auch alle Vollkommenheiten der Humanität, Cultur und höch- sten Aufklärung, die ein idealischer Begrif gestattet: so hätte ich zur wahren Geschichte unsres Geschlechts eben so viel ge- sagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me- tallheit im Allgemeinen spräche und sie mit den herrlichsten, aber in einzelnen Jndividuen einander widersprechenden Attri- buten auszierte. Auf diesem Wege der Averroischen Phi- losophie, nach der das ganze Menschengeschlecht nur Eine und zwar eine sehr niedrige Seele besitzet, die sich dem einzelnen Menschen nur Theilweise mittheilet, auf ihm soll unsre Phi- losophie der Geschichte nicht wandern. Schränkte ich aber gegenseits beim Menschen, alles auf Jndividuen ein und läug- nete die Kette ihres Zusammenhanges sowohl unter einander
als
ſelligkeit und bildenden Tradition vom Erſten bis zum letzten Gliede.
Es giebt alſo eine Erziehung des Menſchengeſchlechts; eben weil jeder Menſch nur durch Erziehung ein Menſch wird und das ganze Geſchlecht nicht anders als in dieſer Kette von Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand ſagte, daß nicht der einzelne Menſch ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo ſpraͤche er fuͤr mich unverſtaͤndlich, da Geſchlecht und Gattung nur allgemeine Begriffe ſind, außer ſofern ſie in einzelnen Weſen exſiſtiren. Gaͤbe ich dieſem allgemeinen Begrif nun auch alle Vollkommenheiten der Humanitaͤt, Cultur und hoͤch- ſten Aufklaͤrung, die ein idealiſcher Begrif geſtattet: ſo haͤtte ich zur wahren Geſchichte unſres Geſchlechts eben ſo viel ge- ſagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me- tallheit im Allgemeinen ſpraͤche und ſie mit den herrlichſten, aber in einzelnen Jndividuen einander widerſprechenden Attri- buten auszierte. Auf dieſem Wege der Averroiſchen Phi- loſophie, nach der das ganze Menſchengeſchlecht nur Eine und zwar eine ſehr niedrige Seele beſitzet, die ſich dem einzelnen Menſchen nur Theilweiſe mittheilet, auf ihm ſoll unſre Phi- loſophie der Geſchichte nicht wandern. Schraͤnkte ich aber gegenſeits beim Menſchen, alles auf Jndividuen ein und laͤug- nete die Kette ihres Zuſammenhanges ſowohl unter einander
als
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[212/0224]
ſelligkeit und bildenden Tradition vom Erſten bis zum
letzten Gliede.
Es giebt alſo eine Erziehung des Menſchengeſchlechts;
eben weil jeder Menſch nur durch Erziehung ein Menſch wird
und das ganze Geſchlecht nicht anders als in dieſer Kette von
Jndividuen lebet. Freilich wenn jemand ſagte, daß nicht der
einzelne Menſch ſondern das Geſchlecht erzogen werde, ſo
ſpraͤche er fuͤr mich unverſtaͤndlich, da Geſchlecht und Gattung
nur allgemeine Begriffe ſind, außer ſofern ſie in einzelnen
Weſen exſiſtiren. Gaͤbe ich dieſem allgemeinen Begrif nun
auch alle Vollkommenheiten der Humanitaͤt, Cultur und hoͤch-
ſten Aufklaͤrung, die ein idealiſcher Begrif geſtattet: ſo haͤtte
ich zur wahren Geſchichte unſres Geſchlechts eben ſo viel ge-
ſagt, als wenn ich von der Thierheit, der Steinheit, der Me-
tallheit im Allgemeinen ſpraͤche und ſie mit den herrlichſten,
aber in einzelnen Jndividuen einander widerſprechenden Attri-
buten auszierte. Auf dieſem Wege der Averroiſchen Phi-
loſophie, nach der das ganze Menſchengeſchlecht nur Eine und
zwar eine ſehr niedrige Seele beſitzet, die ſich dem einzelnen
Menſchen nur Theilweiſe mittheilet, auf ihm ſoll unſre Phi-
loſophie der Geſchichte nicht wandern. Schraͤnkte ich aber
gegenſeits beim Menſchen, alles auf Jndividuen ein und laͤug-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 212. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/224>, abgerufen am 27.11.2024.
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