bendigen Wuchses, seiner Früchtetragenden Zweige. Der Philosoph indessen, der die Genesis und den Umfang eines Menschenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die ganze Kette der Bildung unsres Geschlechts in der Geschichte ver- folgen könnte; er müßte, dünkt mich, da ihn alles an Abhän- gigkeit erinnert, sich aus seiner idealischen Welt, in der er sich allein und allgnugsam fühlet, gar bald in unsre wirkliche zu- rück finden.
So wenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt: so wenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgebohrner. Nicht nur der Keim unsrer in- nern Anlagen ist genetisch wie unser körperliches Gebilde: son- dern auch jede Entwicklung dieses Keimes hängt vom Schick- sal ab, das uns hie oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jah- ren die Hülfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das Auge, mußte sehen, das Ohr hören lernen: und wie künstlich das vornehmste Mittel unsrer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Na- tur auch unsern ganzen Mechanismus, sammt der Beschaffen- heit und Dauer unsrer Lebensalter zu dieser fremden Beihülfe eingerichtet. Das Hirn der Kinder ist weich und hangt noch an der Hirnschale: langsam bildet es seine Streifen aus und wird mit den Jahren erst vester; bis es allmälich sich härtet
und
bendigen Wuchſes, ſeiner Fruͤchtetragenden Zweige. Der Philoſoph indeſſen, der die Geneſis und den Umfang eines Menſchenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die ganze Kette der Bildung unſres Geſchlechts in der Geſchichte ver- folgen koͤnnte; er muͤßte, duͤnkt mich, da ihn alles an Abhaͤn- gigkeit erinnert, ſich aus ſeiner idealiſchen Welt, in der er ſich allein und allgnugſam fuͤhlet, gar bald in unſre wirkliche zu- ruͤck finden.
So wenig ein Menſch ſeiner natuͤrlichen Geburt nach aus ſich entſpringt: ſo wenig iſt er im Gebrauch ſeiner geiſtigen Kraͤfte ein Selbſtgebohrner. Nicht nur der Keim unſrer in- nern Anlagen iſt genetiſch wie unſer koͤrperliches Gebilde: ſon- dern auch jede Entwicklung dieſes Keimes haͤngt vom Schick- ſal ab, das uns hie oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jah- ren die Huͤlfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das Auge, mußte ſehen, das Ohr hoͤren lernen: und wie kuͤnſtlich das vornehmſte Mittel unſrer Gedanken, die Sprache, erlangt werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Na- tur auch unſern ganzen Mechanismus, ſammt der Beſchaffen- heit und Dauer unſrer Lebensalter zu dieſer fremden Beihuͤlfe eingerichtet. Das Hirn der Kinder iſt weich und hangt noch an der Hirnſchale: langſam bildet es ſeine Streifen aus und wird mit den Jahren erſt veſter; bis es allmaͤlich ſich haͤrtet
und
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0222"n="210"/>
bendigen Wuchſes, ſeiner Fruͤchtetragenden Zweige. Der<lb/>
Philoſoph indeſſen, der die Geneſis und den Umfang eines<lb/>
Menſchenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die ganze<lb/>
Kette der Bildung unſres Geſchlechts in der Geſchichte ver-<lb/>
folgen koͤnnte; er muͤßte, duͤnkt mich, da ihn alles an Abhaͤn-<lb/>
gigkeit erinnert, ſich aus ſeiner idealiſchen Welt, in der er ſich<lb/>
allein und allgnugſam fuͤhlet, gar bald in unſre wirkliche zu-<lb/>
ruͤck finden.</p><lb/><p>So wenig ein Menſch ſeiner natuͤrlichen Geburt nach aus<lb/>ſich entſpringt: ſo wenig iſt er im Gebrauch ſeiner geiſtigen<lb/>
Kraͤfte ein Selbſtgebohrner. Nicht nur der Keim unſrer in-<lb/>
nern Anlagen iſt genetiſch wie unſer koͤrperliches Gebilde: ſon-<lb/>
dern auch jede Entwicklung dieſes Keimes haͤngt vom Schick-<lb/>ſal ab, das uns hie oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jah-<lb/>
ren die Huͤlfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das<lb/>
Auge, mußte ſehen, das Ohr hoͤren lernen: und wie kuͤnſtlich<lb/>
das vornehmſte Mittel unſrer Gedanken, die Sprache, erlangt<lb/>
werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Na-<lb/>
tur auch unſern ganzen Mechanismus, ſammt der Beſchaffen-<lb/>
heit und Dauer unſrer Lebensalter zu dieſer fremden Beihuͤlfe<lb/>
eingerichtet. Das Hirn der Kinder iſt weich und hangt noch<lb/>
an der Hirnſchale: langſam bildet es ſeine Streifen aus und<lb/>
wird mit den Jahren erſt veſter; bis es allmaͤlich ſich haͤrtet<lb/><fwplace="bottom"type="catch">und</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[210/0222]
bendigen Wuchſes, ſeiner Fruͤchtetragenden Zweige. Der
Philoſoph indeſſen, der die Geneſis und den Umfang eines
Menſchenlebens in der Erfahrung kennet und ja auch die ganze
Kette der Bildung unſres Geſchlechts in der Geſchichte ver-
folgen koͤnnte; er muͤßte, duͤnkt mich, da ihn alles an Abhaͤn-
gigkeit erinnert, ſich aus ſeiner idealiſchen Welt, in der er ſich
allein und allgnugſam fuͤhlet, gar bald in unſre wirkliche zu-
ruͤck finden.
So wenig ein Menſch ſeiner natuͤrlichen Geburt nach aus
ſich entſpringt: ſo wenig iſt er im Gebrauch ſeiner geiſtigen
Kraͤfte ein Selbſtgebohrner. Nicht nur der Keim unſrer in-
nern Anlagen iſt genetiſch wie unſer koͤrperliches Gebilde: ſon-
dern auch jede Entwicklung dieſes Keimes haͤngt vom Schick-
ſal ab, das uns hie oder dorthin pflanzte und nach Zeit und Jah-
ren die Huͤlfsmittel der Bildung um uns legte. Schon das
Auge, mußte ſehen, das Ohr hoͤren lernen: und wie kuͤnſtlich
das vornehmſte Mittel unſrer Gedanken, die Sprache, erlangt
werde, darf keinem verborgen bleiben. Offenbar hat die Na-
tur auch unſern ganzen Mechanismus, ſammt der Beſchaffen-
heit und Dauer unſrer Lebensalter zu dieſer fremden Beihuͤlfe
eingerichtet. Das Hirn der Kinder iſt weich und hangt noch
an der Hirnſchale: langſam bildet es ſeine Streifen aus und
wird mit den Jahren erſt veſter; bis es allmaͤlich ſich haͤrtet
und
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 210. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/222>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.