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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785.

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nigstens versagend zu befriedigen suchte. Der Europäer hat
keinen Begrif von den heißen Leidenschaften und Phantomen,
die in der Brust des Negers glühen und der Jndier keinen
Begrif von den unruhigen Begierden, die den Europäer von
Einem Weltende zum andern jagen. Der Wilde, der nicht
auf üppige Weise zärtlich seyn kann, ist es desto mehr auf eine
gesetzte ruhige Weise; dagegen wo die Flamme des Wohl-
wollens lichte Funken umherwirft, da verglühet sie auch bald
und erstirbt in diesen Funken. Kurz, das menschliche Gefühl
hat alle Formen erhalten, die auf unsrer Kugel in den verschied-
nen Klimaten, Zuständen und Organisationen der Menschen
nur statt fanden; allenthalben aber liegt Glückseligkeit des Le-
bens nicht in der wühlenden Menge von Empfindungen und
Gedanken, sondern in ihrem Verhältniß zum wirklichen innern
Genuß unseres Daseyns und dessen, was wir zu unserm Da-
seyn rechnen. Nirgend auf Erden blühet die Rose der Glück-
seligkeit ohne Dornen; was aber aus diesen Dornen hervor-
geht ist allenthalben und unter allerlei Gestalten die zwar flüch-
tige, aber schöne Rose einer menschlichen Lebensfreude.

Jrre ich nicht: so lassen sich nach diesen einfachen Vor-
aussetzungen, deren Wahrheit jede Brust fühlet, einige Linien
ziehen, die wenigstens manche Zweifel und Jrrungen über
die Bestimmung des Menschengeschlechts abschneiden. Was
z. B. könnte es heißen, daß der Mensch, wie wir ihn hier ken-
nen, zu einem unendlichen Wachsthum seiner Seelenkräfte,

zu
Jdeen, II. Th. C c

nigſtens verſagend zu befriedigen ſuchte. Der Europaͤer hat
keinen Begrif von den heißen Leidenſchaften und Phantomen,
die in der Bruſt des Negers gluͤhen und der Jndier keinen
Begrif von den unruhigen Begierden, die den Europaͤer von
Einem Weltende zum andern jagen. Der Wilde, der nicht
auf uͤppige Weiſe zaͤrtlich ſeyn kann, iſt es deſto mehr auf eine
geſetzte ruhige Weiſe; dagegen wo die Flamme des Wohl-
wollens lichte Funken umherwirft, da vergluͤhet ſie auch bald
und erſtirbt in dieſen Funken. Kurz, das menſchliche Gefuͤhl
hat alle Formen erhalten, die auf unſrer Kugel in den verſchied-
nen Klimaten, Zuſtaͤnden und Organiſationen der Menſchen
nur ſtatt fanden; allenthalben aber liegt Gluͤckſeligkeit des Le-
bens nicht in der wuͤhlenden Menge von Empfindungen und
Gedanken, ſondern in ihrem Verhaͤltniß zum wirklichen innern
Genuß unſeres Daſeyns und deſſen, was wir zu unſerm Da-
ſeyn rechnen. Nirgend auf Erden bluͤhet die Roſe der Gluͤck-
ſeligkeit ohne Dornen; was aber aus dieſen Dornen hervor-
geht iſt allenthalben und unter allerlei Geſtalten die zwar fluͤch-
tige, aber ſchoͤne Roſe einer menſchlichen Lebensfreude.

Jrre ich nicht: ſo laſſen ſich nach dieſen einfachen Vor-
ausſetzungen, deren Wahrheit jede Bruſt fuͤhlet, einige Linien
ziehen, die wenigſtens manche Zweifel und Jrrungen uͤber
die Beſtimmung des Menſchengeſchlechts abſchneiden. Was
z. B. koͤnnte es heißen, daß der Menſch, wie wir ihn hier ken-
nen, zu einem unendlichen Wachsthum ſeiner Seelenkraͤfte,

zu
Jdeen, II. Th. C c
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[201/0213] nigſtens verſagend zu befriedigen ſuchte. Der Europaͤer hat keinen Begrif von den heißen Leidenſchaften und Phantomen, die in der Bruſt des Negers gluͤhen und der Jndier keinen Begrif von den unruhigen Begierden, die den Europaͤer von Einem Weltende zum andern jagen. Der Wilde, der nicht auf uͤppige Weiſe zaͤrtlich ſeyn kann, iſt es deſto mehr auf eine geſetzte ruhige Weiſe; dagegen wo die Flamme des Wohl- wollens lichte Funken umherwirft, da vergluͤhet ſie auch bald und erſtirbt in dieſen Funken. Kurz, das menſchliche Gefuͤhl hat alle Formen erhalten, die auf unſrer Kugel in den verſchied- nen Klimaten, Zuſtaͤnden und Organiſationen der Menſchen nur ſtatt fanden; allenthalben aber liegt Gluͤckſeligkeit des Le- bens nicht in der wuͤhlenden Menge von Empfindungen und Gedanken, ſondern in ihrem Verhaͤltniß zum wirklichen innern Genuß unſeres Daſeyns und deſſen, was wir zu unſerm Da- ſeyn rechnen. Nirgend auf Erden bluͤhet die Roſe der Gluͤck- ſeligkeit ohne Dornen; was aber aus dieſen Dornen hervor- geht iſt allenthalben und unter allerlei Geſtalten die zwar fluͤch- tige, aber ſchoͤne Roſe einer menſchlichen Lebensfreude. Jrre ich nicht: ſo laſſen ſich nach dieſen einfachen Vor- ausſetzungen, deren Wahrheit jede Bruſt fuͤhlet, einige Linien ziehen, die wenigſtens manche Zweifel und Jrrungen uͤber die Beſtimmung des Menſchengeſchlechts abſchneiden. Was z. B. koͤnnte es heißen, daß der Menſch, wie wir ihn hier ken- nen, zu einem unendlichen Wachsthum ſeiner Seelenkraͤfte, zu Jdeen, II. Th. C c

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/213>, abgerufen am 28.11.2024.