in der Brust eines jeden einzelnen Wesens; ein andres hat so wenig Recht, mich zu seinem Gefühl zu zwingen, als es ja keine Macht hat, mir seine Empfindungsart zu geben und das Meine in Sein Daseyn zu verwandeln. Laßet uns also aus stolzer Trägheit oder aus gewohnter Vermessenheit die Ge- stalt und das Maas der Glückseligkeit unsres Geschlechts nicht kürzer, oder höher setzen, als es der Schöpfer setzte: denn Er wußte allein, wozu der Sterbliche auf unsrer Erde seyn sollte.
1. Unsern vielorganischen Körper mit allen seinen Sin- nen und Gliedern empfingen wir zum Gebrauch, zur Uebung. Ohne diese stocken unsre Lebenssäfte; unsre Organe werden matt; der Körper, ein lebendiger Leichnam, stirbt lange vor- her eh er stirbt; er verwes't eines langsamen, elenden, unna- türlichen Todes. Wollte die Natur uns also die erste unent- behrliche Grundlage der Glückseligkeit, Gesundheit gewähren; so mußte sie uns Uebung, Mühe und Arbeit verleihn und da- durch dem Menschen sein Wohlseyn lieber aufdringen, als daß er dasselbe entbehren sollte. Daher verkaufen, wie die Griechen sagen, die Götter den Sterblichen alles um Arbeit; nicht aus Neid, sondern aus Güte, weil eben in diesem Kampf, in diesem Streben nach der erquickenden Ruhe der größeste Genuß des Wohlseyns, das Gefühl wirksamer, strebender Kräfte lieget. Nur in denen Klimaten oder Ständen siechet
die
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in der Bruſt eines jeden einzelnen Weſens; ein andres hat ſo wenig Recht, mich zu ſeinem Gefuͤhl zu zwingen, als es ja keine Macht hat, mir ſeine Empfindungsart zu geben und das Meine in Sein Daſeyn zu verwandeln. Laßet uns alſo aus ſtolzer Traͤgheit oder aus gewohnter Vermeſſenheit die Ge- ſtalt und das Maas der Gluͤckſeligkeit unſres Geſchlechts nicht kuͤrzer, oder hoͤher ſetzen, als es der Schoͤpfer ſetzte: denn Er wußte allein, wozu der Sterbliche auf unſrer Erde ſeyn ſollte.
1. Unſern vielorganiſchen Koͤrper mit allen ſeinen Sin- nen und Gliedern empfingen wir zum Gebrauch, zur Uebung. Ohne dieſe ſtocken unſre Lebensſaͤfte; unſre Organe werden matt; der Koͤrper, ein lebendiger Leichnam, ſtirbt lange vor- her eh er ſtirbt; er verweſ't eines langſamen, elenden, unna- tuͤrlichen Todes. Wollte die Natur uns alſo die erſte unent- behrliche Grundlage der Gluͤckſeligkeit, Geſundheit gewaͤhren; ſo mußte ſie uns Uebung, Muͤhe und Arbeit verleihn und da- durch dem Menſchen ſein Wohlſeyn lieber aufdringen, als daß er daſſelbe entbehren ſollte. Daher verkaufen, wie die Griechen ſagen, die Goͤtter den Sterblichen alles um Arbeit; nicht aus Neid, ſondern aus Guͤte, weil eben in dieſem Kampf, in dieſem Streben nach der erquickenden Ruhe der groͤßeſte Genuß des Wohlſeyns, das Gefuͤhl wirkſamer, ſtrebender Kraͤfte lieget. Nur in denen Klimaten oder Staͤnden ſiechet
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[195/0207]
in der Bruſt eines jeden einzelnen Weſens; ein andres hat
ſo wenig Recht, mich zu ſeinem Gefuͤhl zu zwingen, als es ja
keine Macht hat, mir ſeine Empfindungsart zu geben und das
Meine in Sein Daſeyn zu verwandeln. Laßet uns alſo aus
ſtolzer Traͤgheit oder aus gewohnter Vermeſſenheit die Ge-
ſtalt und das Maas der Gluͤckſeligkeit unſres Geſchlechts nicht
kuͤrzer, oder hoͤher ſetzen, als es der Schoͤpfer ſetzte: denn Er
wußte allein, wozu der Sterbliche auf unſrer Erde ſeyn ſollte.
1. Unſern vielorganiſchen Koͤrper mit allen ſeinen Sin-
nen und Gliedern empfingen wir zum Gebrauch, zur Uebung.
Ohne dieſe ſtocken unſre Lebensſaͤfte; unſre Organe werden
matt; der Koͤrper, ein lebendiger Leichnam, ſtirbt lange vor-
her eh er ſtirbt; er verweſ't eines langſamen, elenden, unna-
tuͤrlichen Todes. Wollte die Natur uns alſo die erſte unent-
behrliche Grundlage der Gluͤckſeligkeit, Geſundheit gewaͤhren;
ſo mußte ſie uns Uebung, Muͤhe und Arbeit verleihn und da-
durch dem Menſchen ſein Wohlſeyn lieber aufdringen, als
daß er daſſelbe entbehren ſollte. Daher verkaufen, wie die
Griechen ſagen, die Goͤtter den Sterblichen alles um Arbeit;
nicht aus Neid, ſondern aus Guͤte, weil eben in dieſem Kampf,
in dieſem Streben nach der erquickenden Ruhe der groͤßeſte
Genuß des Wohlſeyns, das Gefuͤhl wirkſamer, ſtrebender
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 195. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/207>, abgerufen am 28.11.2024.
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