dert den Umlauf der Säfte und erhält den elastischen Ton der Glieder. Die Völker der reichsten Erdstriche leben mäßig: sie haben keinen Begrif, daß ein widernatürliches Reizen der Nerven und eine tägliche Verschlämmung der Säfte das Ver- gnügen seyn könne, dazu ein Mensch erschaffen worden; die Stämme der Braminen haben in ihren Vätern von Anfange der Welt her weder Fleisch noch Wein gekostet. Da es nun bei Thieren sichtbar ist, was diese Lebensmittel aufs ganze Em- pfindungssystem für Macht haben; wie viel stärker muß diese Macht bei der feinsten Blume aller Organisationen, der Mensch- heit wirken. Mäßigkeit des sinnlichen Genußes ist ohne Zweifel eine kräftigere Methode zur Philosophie der Huma- nität als tausend gelernte künstliche Abstractionen. Alle grob- fühlenden Völker in einem wilden Zustande oder harten Kli- ma leben gefräßig, weil sie nachher oft hungern müssen: sie essen auch meistens, was ihnen vorkommt. Völker von fei- nerm Sinn lieben auch feinere Vergnügen. Jhre Mahl- zeiten sind einfach und sie genießen täglich dieselben Speisen; dafür aber wählen sie wohllüstige Salben, feine Gerüche, Pracht, Bequemlichkeit und vor allem ist ihre Blume des Vergnügens, die sinnliche Liebe. Wenn blos von Feinheit des Organs die Rede seyn soll: so ist kein Zweifel, wohin sich der Vorzug neige? denn kein gesitteter Europäer wird zwi- schen dem Fett- und Thranmahle des Grönländers und den
Spece-
dert den Umlauf der Saͤfte und erhaͤlt den elaſtiſchen Ton der Glieder. Die Voͤlker der reichſten Erdſtriche leben maͤßig: ſie haben keinen Begrif, daß ein widernatuͤrliches Reizen der Nerven und eine taͤgliche Verſchlaͤmmung der Saͤfte das Ver- gnuͤgen ſeyn koͤnne, dazu ein Menſch erſchaffen worden; die Staͤmme der Braminen haben in ihren Vaͤtern von Anfange der Welt her weder Fleiſch noch Wein gekoſtet. Da es nun bei Thieren ſichtbar iſt, was dieſe Lebensmittel aufs ganze Em- pfindungsſyſtem fuͤr Macht haben; wie viel ſtaͤrker muß dieſe Macht bei der feinſten Blume aller Organiſationen, der Menſch- heit wirken. Maͤßigkeit des ſinnlichen Genußes iſt ohne Zweifel eine kraͤftigere Methode zur Philoſophie der Huma- nitaͤt als tauſend gelernte kuͤnſtliche Abſtractionen. Alle grob- fuͤhlenden Voͤlker in einem wilden Zuſtande oder harten Kli- ma leben gefraͤßig, weil ſie nachher oft hungern muͤſſen: ſie eſſen auch meiſtens, was ihnen vorkommt. Voͤlker von fei- nerm Sinn lieben auch feinere Vergnuͤgen. Jhre Mahl- zeiten ſind einfach und ſie genießen taͤglich dieſelben Speiſen; dafuͤr aber waͤhlen ſie wohlluͤſtige Salben, feine Geruͤche, Pracht, Bequemlichkeit und vor allem iſt ihre Blume des Vergnuͤgens, die ſinnliche Liebe. Wenn blos von Feinheit des Organs die Rede ſeyn ſoll: ſo iſt kein Zweifel, wohin ſich der Vorzug neige? denn kein geſitteter Europaͤer wird zwi- ſchen dem Fett- und Thranmahle des Groͤnlaͤnders und den
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dert den Umlauf der Saͤfte und erhaͤlt den elaſtiſchen Ton der
Glieder. Die Voͤlker der reichſten Erdſtriche leben maͤßig:
ſie haben keinen Begrif, daß ein widernatuͤrliches Reizen der
Nerven und eine taͤgliche Verſchlaͤmmung der Saͤfte das Ver-
gnuͤgen ſeyn koͤnne, dazu ein Menſch erſchaffen worden; die
Staͤmme der Braminen haben in ihren Vaͤtern von Anfange
der Welt her weder Fleiſch noch Wein gekoſtet. Da es nun
bei Thieren ſichtbar iſt, was dieſe Lebensmittel aufs ganze Em-
pfindungsſyſtem fuͤr Macht haben; wie viel ſtaͤrker muß dieſe
Macht bei der feinſten Blume aller Organiſationen, der Menſch-
heit wirken. Maͤßigkeit des ſinnlichen Genußes iſt ohne
Zweifel eine kraͤftigere Methode zur Philoſophie der Huma-
nitaͤt als tauſend gelernte kuͤnſtliche Abſtractionen. Alle grob-
fuͤhlenden Voͤlker in einem wilden Zuſtande oder harten Kli-
ma leben gefraͤßig, weil ſie nachher oft hungern muͤſſen: ſie
eſſen auch meiſtens, was ihnen vorkommt. Voͤlker von fei-
nerm Sinn lieben auch feinere Vergnuͤgen. Jhre Mahl-
zeiten ſind einfach und ſie genießen taͤglich dieſelben Speiſen;
dafuͤr aber waͤhlen ſie wohlluͤſtige Salben, feine Geruͤche,
Pracht, Bequemlichkeit und vor allem iſt ihre Blume des
Vergnuͤgens, die ſinnliche Liebe. Wenn blos von Feinheit
des Organs die Rede ſeyn ſoll: ſo iſt kein Zweifel, wohin ſich
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ſchen dem Fett- und Thranmahle des Groͤnlaͤnders und den
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/147>, abgerufen am 24.11.2024.
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