dem unverkennbaren Gesetz Einer Analogie, die durch alles Lebendige unsrer Erde herrschet.
Endlich, wenn er erführe, daß diese lebendige Kraft das ausgebildete Geschöpf nicht verlasse sondern sich in ihm thätig zu offenbaren fortfahre; zwar nicht mehr schaffend, denn es ist erschaffen, aber erhaltend, belebend, nährend. Sobald es auf die Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja zum Theil in welchen es gebildet ward: der Mund öfnet sich, wie Oefnung seine erste Gebehrde war, und die Lunge schöpft Athem: die Stimme ruft, der Magen verdauet, die Lippen saugen: es wächst, es lebt, alle innern und äußern Theile kommen einan- der zu Hülfe: in einer gemeinschaftlichen Thätigkeit und Mit- leidenheit ziehen sie an, werfen aus, verwandeln in sich, hel- fen einander in Schmerzen und Krankheit auf tausendfältig- wunderbare, unerforschte Weise. Was würde, was könnte jeder, der dies zuerst bemerkte, sagen, als: die eingebohrne, genetische Lebenskraft ist in dem Geschöpf, das durch sie ge- bildet worden, in allen Theilen und in jedem derselben nach seiner Weise, d. i. organisch noch einwohnend. Allenthal- ben ist sie ihm aufs vielartigste gegenwärtig; da es nur durch sie ein lebendiges Ganze ist, was sich erhält, wächst und wirket.
Und diese Lebenskraft haben wir alle in uns: in Gesund- heit und Krankheit stehet sie uns bei, aßimilirt gleichartige
Theile,
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dem unverkennbaren Geſetz Einer Analogie, die durch alles Lebendige unſrer Erde herrſchet.
Endlich, wenn er erfuͤhre, daß dieſe lebendige Kraft das ausgebildete Geſchoͤpf nicht verlaſſe ſondern ſich in ihm thaͤtig zu offenbaren fortfahre; zwar nicht mehr ſchaffend, denn es iſt erſchaffen, aber erhaltend, belebend, naͤhrend. Sobald es auf die Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja zum Theil in welchen es gebildet ward: der Mund oͤfnet ſich, wie Oefnung ſeine erſte Gebehrde war, und die Lunge ſchoͤpft Athem: die Stimme ruft, der Magen verdauet, die Lippen ſaugen: es waͤchſt, es lebt, alle innern und aͤußern Theile kommen einan- der zu Huͤlfe: in einer gemeinſchaftlichen Thaͤtigkeit und Mit- leidenheit ziehen ſie an, werfen aus, verwandeln in ſich, hel- fen einander in Schmerzen und Krankheit auf tauſendfaͤltig- wunderbare, unerforſchte Weiſe. Was wuͤrde, was koͤnnte jeder, der dies zuerſt bemerkte, ſagen, als: die eingebohrne, genetiſche Lebenskraft iſt in dem Geſchoͤpf, das durch ſie ge- bildet worden, in allen Theilen und in jedem derſelben nach ſeiner Weiſe, d. i. organiſch noch einwohnend. Allenthal- ben iſt ſie ihm aufs vielartigſte gegenwaͤrtig; da es nur durch ſie ein lebendiges Ganze iſt, was ſich erhaͤlt, waͤchſt und wirket.
Und dieſe Lebenskraft haben wir alle in uns: in Geſund- heit und Krankheit ſtehet ſie uns bei, aßimilirt gleichartige
Theile,
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dem unverkennbaren Geſetz Einer Analogie, die durch alles
Lebendige unſrer Erde herrſchet.
Endlich, wenn er erfuͤhre, daß dieſe lebendige Kraft das
ausgebildete Geſchoͤpf nicht verlaſſe ſondern ſich in ihm thaͤtig zu
offenbaren fortfahre; zwar nicht mehr ſchaffend, denn es iſt
erſchaffen, aber erhaltend, belebend, naͤhrend. Sobald es auf die
Welt tritt, verrichtet es alle Lebensverrichtungen, zu welchen, ja
zum Theil in welchen es gebildet ward: der Mund oͤfnet ſich, wie
Oefnung ſeine erſte Gebehrde war, und die Lunge ſchoͤpft Athem:
die Stimme ruft, der Magen verdauet, die Lippen ſaugen: es
waͤchſt, es lebt, alle innern und aͤußern Theile kommen einan-
der zu Huͤlfe: in einer gemeinſchaftlichen Thaͤtigkeit und Mit-
leidenheit ziehen ſie an, werfen aus, verwandeln in ſich, hel-
fen einander in Schmerzen und Krankheit auf tauſendfaͤltig-
wunderbare, unerforſchte Weiſe. Was wuͤrde, was koͤnnte
jeder, der dies zuerſt bemerkte, ſagen, als: die eingebohrne,
genetiſche Lebenskraft iſt in dem Geſchoͤpf, das durch ſie ge-
bildet worden, in allen Theilen und in jedem derſelben nach
ſeiner Weiſe, d. i. organiſch noch einwohnend. Allenthal-
ben iſt ſie ihm aufs vielartigſte gegenwaͤrtig; da es nur durch
ſie ein lebendiges Ganze iſt, was ſich erhaͤlt, waͤchſt und wirket.
Und dieſe Lebenskraft haben wir alle in uns: in Geſund-
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 2. Riga u. a., 1785, S. 107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte02_1785/119>, abgerufen am 27.11.2024.
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