Flamme mit dem feinsten und wirksamsten Feuer an, das sie zwischen Himmel und Erde finden konnte. Unbekannte Triebe erwachen, von denen die Kindheit nichts wußte. Das Auge des Jünglings belebt sich, seine Stimme sinkt, die Wange des Mädchens färbt sich: zwei Geschöpfe verlangen nach einander und wissen nicht, was sie verlangen: sie schmach- ten nach Einigung, die ihnen doch die zertrennende Natur versagt hat und schwimmen in einem Meer der Täuschung. Süßgetäuschte Geschöpfe, geniesset eurer Zeit; wisset aber, daß ihr damit nicht eure kleine Träume, sondern angenehm gezwungen, die größte Aussicht der Natur befördert. Jm ersten Paar Einer Gattung wollte sie sie alle, Geschlechter auf Geschlechter, pflanzen; sie wählte also fortsprießende Keime aus den frischesten Augenblicken des Lebens, des Wohl- gefallens an einander; und indem sie einem lebendigen We- sen etwas von seinem Daseyn raubt, wollte sie es ihm we- nigstens auf die sanfteste Art rauben. Sobald sie das Ge- schlecht gesichert hat, läßt sie allmälich das Jndivi- duum sinken. Kaum ist die Zeit der Begattung vorüber, so verliert der Hirsch sein prächtiges Geweih, die Vögel ih- ren Gesang und viel von ihrer Schönheit, die Fische ihren Wohlgeschmack und die Pflanzen ihre beste Farbe. Dem Schmetterlinge entfallen die Flügel und der Athem gehet ihm aus; ungeschwächt und allein kann er ein halbes Jahr
leben.
Flamme mit dem feinſten und wirkſamſten Feuer an, das ſie zwiſchen Himmel und Erde finden konnte. Unbekannte Triebe erwachen, von denen die Kindheit nichts wußte. Das Auge des Juͤnglings belebt ſich, ſeine Stimme ſinkt, die Wange des Maͤdchens faͤrbt ſich: zwei Geſchoͤpfe verlangen nach einander und wiſſen nicht, was ſie verlangen: ſie ſchmach- ten nach Einigung, die ihnen doch die zertrennende Natur verſagt hat und ſchwimmen in einem Meer der Taͤuſchung. Suͤßgetaͤuſchte Geſchoͤpfe, genieſſet eurer Zeit; wiſſet aber, daß ihr damit nicht eure kleine Traͤume, ſondern angenehm gezwungen, die groͤßte Ausſicht der Natur befoͤrdert. Jm erſten Paar Einer Gattung wollte ſie ſie alle, Geſchlechter auf Geſchlechter, pflanzen; ſie waͤhlte alſo fortſprießende Keime aus den friſcheſten Augenblicken des Lebens, des Wohl- gefallens an einander; und indem ſie einem lebendigen We- ſen etwas von ſeinem Daſeyn raubt, wollte ſie es ihm we- nigſtens auf die ſanfteſte Art rauben. Sobald ſie das Ge- ſchlecht geſichert hat, laͤßt ſie allmaͤlich das Jndivi- duum ſinken. Kaum iſt die Zeit der Begattung voruͤber, ſo verliert der Hirſch ſein praͤchtiges Geweih, die Voͤgel ih- ren Geſang und viel von ihrer Schoͤnheit, die Fiſche ihren Wohlgeſchmack und die Pflanzen ihre beſte Farbe. Dem Schmetterlinge entfallen die Fluͤgel und der Athem gehet ihm aus; ungeſchwaͤcht und allein kann er ein halbes Jahr
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Flamme mit dem feinſten und wirkſamſten Feuer an, das ſie
zwiſchen Himmel und Erde finden konnte. Unbekannte
Triebe erwachen, von denen die Kindheit nichts wußte. Das
Auge des Juͤnglings belebt ſich, ſeine Stimme ſinkt, die
Wange des Maͤdchens faͤrbt ſich: zwei Geſchoͤpfe verlangen
nach einander und wiſſen nicht, was ſie verlangen: ſie ſchmach-
ten nach Einigung, die ihnen doch die zertrennende Natur
verſagt hat und ſchwimmen in einem Meer der Taͤuſchung.
Suͤßgetaͤuſchte Geſchoͤpfe, genieſſet eurer Zeit; wiſſet aber,
daß ihr damit nicht eure kleine Traͤume, ſondern angenehm
gezwungen, die groͤßte Ausſicht der Natur befoͤrdert. Jm
erſten Paar Einer Gattung wollte ſie ſie alle, Geſchlechter
auf Geſchlechter, pflanzen; ſie waͤhlte alſo fortſprießende
Keime aus den friſcheſten Augenblicken des Lebens, des Wohl-
gefallens an einander; und indem ſie einem lebendigen We-
ſen etwas von ſeinem Daſeyn raubt, wollte ſie es ihm we-
nigſtens auf die ſanfteſte Art rauben. Sobald ſie das Ge-
ſchlecht geſichert hat, laͤßt ſie allmaͤlich das Jndivi-
duum ſinken. Kaum iſt die Zeit der Begattung voruͤber,
ſo verliert der Hirſch ſein praͤchtiges Geweih, die Voͤgel ih-
ren Geſang und viel von ihrer Schoͤnheit, die Fiſche ihren
Wohlgeſchmack und die Pflanzen ihre beſte Farbe. Dem
Schmetterlinge entfallen die Fluͤgel und der Athem gehet
ihm aus; ungeſchwaͤcht und allein kann er ein halbes Jahr
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/92>, abgerufen am 24.11.2024.
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