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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Pflanze, den Gesetzen der Natur dienet. Auch die Distel,
sagt man, ist schön, wenn sie blühet; und die Blüte, wissen
wir, ist bei den Pflanzen die Zeit der Liebe. Der Kelch ist
das Bett, die Krone sein Vorhang, die andern Theile der
Blume sind Werkzeuge der Fortpflanzung, die die Natur
bei diesen unschuldigen Geschöpfen offen dargelegt und mit
aller Pracht geschmückt hat. Den Blumenkelch der Liebe
machte sie zu einem Salomonischen Brautbett, zu einem
Kelch der Anmuth auch für andre Geschöpfe. Warum that
sie dies alles? und knüpfte auch bei Menschen ins Band der
Liebe die schönsten Reize, die sich in ihrem Gürtel der Schön-
heit fanden? Jhr großer Zweck sollte erreicht werden, nicht
der kleine Zweck des sinnlichen Geschöpfes allein, das sie so
schön ausschmückte; dieser Zweck ist Fortpflanzung, Er-
haltung der Geschlechter
. Die Natur braucht Keime,
sie braucht unendlich viel Keime, weil sie nach ihrem großen
Gange tausend Zwecke auf einmal befördert. Sie mußte
also auch auf Verlust rechnen, weil alles zusammen gedrängt
ist und nichts eine Stelle findet, sich ganz auszuwickeln. Aber
damit ihr bei dieser scheinbaren Verschwendung dennoch das
Wesentliche und die erste Frische der Lebenskraft nimmer
fehlte, mit der sie allen Fällen und Unfällen im Lauf so zu-
sammengedrängter Wesen vorkommen mußte: machte sie
die Zeit der Liebe zur Zeit der Jugend und zündete ihre

Flam-
J 3

Pflanze, den Geſetzen der Natur dienet. Auch die Diſtel,
ſagt man, iſt ſchoͤn, wenn ſie bluͤhet; und die Bluͤte, wiſſen
wir, iſt bei den Pflanzen die Zeit der Liebe. Der Kelch iſt
das Bett, die Krone ſein Vorhang, die andern Theile der
Blume ſind Werkzeuge der Fortpflanzung, die die Natur
bei dieſen unſchuldigen Geſchoͤpfen offen dargelegt und mit
aller Pracht geſchmuͤckt hat. Den Blumenkelch der Liebe
machte ſie zu einem Salomoniſchen Brautbett, zu einem
Kelch der Anmuth auch fuͤr andre Geſchoͤpfe. Warum that
ſie dies alles? und knuͤpfte auch bei Menſchen ins Band der
Liebe die ſchoͤnſten Reize, die ſich in ihrem Guͤrtel der Schoͤn-
heit fanden? Jhr großer Zweck ſollte erreicht werden, nicht
der kleine Zweck des ſinnlichen Geſchoͤpfes allein, das ſie ſo
ſchoͤn ausſchmuͤckte; dieſer Zweck iſt Fortpflanzung, Er-
haltung der Geſchlechter
. Die Natur braucht Keime,
ſie braucht unendlich viel Keime, weil ſie nach ihrem großen
Gange tauſend Zwecke auf einmal befoͤrdert. Sie mußte
alſo auch auf Verluſt rechnen, weil alles zuſammen gedraͤngt
iſt und nichts eine Stelle findet, ſich ganz auszuwickeln. Aber
damit ihr bei dieſer ſcheinbaren Verſchwendung dennoch das
Weſentliche und die erſte Friſche der Lebenskraft nimmer
fehlte, mit der ſie allen Faͤllen und Unfaͤllen im Lauf ſo zu-
ſammengedraͤngter Weſen vorkommen mußte: machte ſie
die Zeit der Liebe zur Zeit der Jugend und zuͤndete ihre

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J 3
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[69/0091] Pflanze, den Geſetzen der Natur dienet. Auch die Diſtel, ſagt man, iſt ſchoͤn, wenn ſie bluͤhet; und die Bluͤte, wiſſen wir, iſt bei den Pflanzen die Zeit der Liebe. Der Kelch iſt das Bett, die Krone ſein Vorhang, die andern Theile der Blume ſind Werkzeuge der Fortpflanzung, die die Natur bei dieſen unſchuldigen Geſchoͤpfen offen dargelegt und mit aller Pracht geſchmuͤckt hat. Den Blumenkelch der Liebe machte ſie zu einem Salomoniſchen Brautbett, zu einem Kelch der Anmuth auch fuͤr andre Geſchoͤpfe. Warum that ſie dies alles? und knuͤpfte auch bei Menſchen ins Band der Liebe die ſchoͤnſten Reize, die ſich in ihrem Guͤrtel der Schoͤn- heit fanden? Jhr großer Zweck ſollte erreicht werden, nicht der kleine Zweck des ſinnlichen Geſchoͤpfes allein, das ſie ſo ſchoͤn ausſchmuͤckte; dieſer Zweck iſt Fortpflanzung, Er- haltung der Geſchlechter. Die Natur braucht Keime, ſie braucht unendlich viel Keime, weil ſie nach ihrem großen Gange tauſend Zwecke auf einmal befoͤrdert. Sie mußte alſo auch auf Verluſt rechnen, weil alles zuſammen gedraͤngt iſt und nichts eine Stelle findet, ſich ganz auszuwickeln. Aber damit ihr bei dieſer ſcheinbaren Verſchwendung dennoch das Weſentliche und die erſte Friſche der Lebenskraft nimmer fehlte, mit der ſie allen Faͤllen und Unfaͤllen im Lauf ſo zu- ſammengedraͤngter Weſen vorkommen mußte: machte ſie die Zeit der Liebe zur Zeit der Jugend und zuͤndete ihre Flam- J 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/91>, abgerufen am 24.11.2024.