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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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den mir in der Geschichte unsres Geschlechts manche Schritte
und Erfolge ohne höhere Einwirkung unbegreiflich. Daß z.
B. der Mensch sich selbst auf den Weg der Cultur gebracht
und ohne höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wis-
senschaft erfunden, scheinet mir unerklärlich und immer uner-
klärlicher, je einen längern rohen Thierzustand man bei ihm
voraussetzt. Eine göttliche Haushaltung hat gewiß über
dem menschlichen Geschlecht von seiner Entstehung an gewal-
tet und hat es auf die ihm leichteste Weise zu seiner Bahn
geführet. Je mehr aber die menschliche Kräfte selbst in Ue-
bung waren: desto weniger bedorften sie theils dieser höhern
Beihülfe, oder desto minder wurden sie ihrer fähig; obwohl
auch in spätern Zeiten die größesten Wirkungen auf der Erde
durch unerklärliche Umstände entstanden sind oder mit ihnen
begleitet gewesen. Selbst Krankheiten waren dazu oft Werk-
zeuge: denn wenn das Organ aus seiner Proportion mit an-
dern gesetzt und also für den gewöhnlichen Kreis des Erde-
lebens uubrauchbar worden ist: so scheints natürlich, daß die
innere rastlose Kraft sich nach andern Seiten des Weltalls
kehre und vielleicht Eindrücke empfange, deren eine ungestörte
Organisation nicht fähig war, deren sie aber auch nicht be-
dorfte. Wie dem aber auch sei, so ists gewiß ein wohlthäti-
ger Schleier, der diese und jene Welt absondert und nicht
ohne Ursach ists so still und stumm um das Grab eines Tod-

ten.

den mir in der Geſchichte unſres Geſchlechts manche Schritte
und Erfolge ohne hoͤhere Einwirkung unbegreiflich. Daß z.
B. der Menſch ſich ſelbſt auf den Weg der Cultur gebracht
und ohne hoͤhere Anleitung ſich Sprache und die erſte Wiſ-
ſenſchaft erfunden, ſcheinet mir unerklaͤrlich und immer uner-
klaͤrlicher, je einen laͤngern rohen Thierzuſtand man bei ihm
vorausſetzt. Eine goͤttliche Haushaltung hat gewiß uͤber
dem menſchlichen Geſchlecht von ſeiner Entſtehung an gewal-
tet und hat es auf die ihm leichteſte Weiſe zu ſeiner Bahn
gefuͤhret. Je mehr aber die menſchliche Kraͤfte ſelbſt in Ue-
bung waren: deſto weniger bedorften ſie theils dieſer hoͤhern
Beihuͤlfe, oder deſto minder wurden ſie ihrer faͤhig; obwohl
auch in ſpaͤtern Zeiten die groͤßeſten Wirkungen auf der Erde
durch unerklaͤrliche Umſtaͤnde entſtanden ſind oder mit ihnen
begleitet geweſen. Selbſt Krankheiten waren dazu oft Werk-
zeuge: denn wenn das Organ aus ſeiner Proportion mit an-
dern geſetzt und alſo fuͤr den gewoͤhnlichen Kreis des Erde-
lebens uubrauchbar worden iſt: ſo ſcheints natuͤrlich, daß die
innere raſtloſe Kraft ſich nach andern Seiten des Weltalls
kehre und vielleicht Eindruͤcke empfange, deren eine ungeſtoͤrte
Organiſation nicht faͤhig war, deren ſie aber auch nicht be-
dorfte. Wie dem aber auch ſei, ſo iſts gewiß ein wohlthaͤti-
ger Schleier, der dieſe und jene Welt abſondert und nicht
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ten.
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[314[294]/0316] den mir in der Geſchichte unſres Geſchlechts manche Schritte und Erfolge ohne hoͤhere Einwirkung unbegreiflich. Daß z. B. der Menſch ſich ſelbſt auf den Weg der Cultur gebracht und ohne hoͤhere Anleitung ſich Sprache und die erſte Wiſ- ſenſchaft erfunden, ſcheinet mir unerklaͤrlich und immer uner- klaͤrlicher, je einen laͤngern rohen Thierzuſtand man bei ihm vorausſetzt. Eine goͤttliche Haushaltung hat gewiß uͤber dem menſchlichen Geſchlecht von ſeiner Entſtehung an gewal- tet und hat es auf die ihm leichteſte Weiſe zu ſeiner Bahn gefuͤhret. Je mehr aber die menſchliche Kraͤfte ſelbſt in Ue- bung waren: deſto weniger bedorften ſie theils dieſer hoͤhern Beihuͤlfe, oder deſto minder wurden ſie ihrer faͤhig; obwohl auch in ſpaͤtern Zeiten die groͤßeſten Wirkungen auf der Erde durch unerklaͤrliche Umſtaͤnde entſtanden ſind oder mit ihnen begleitet geweſen. Selbſt Krankheiten waren dazu oft Werk- zeuge: denn wenn das Organ aus ſeiner Proportion mit an- dern geſetzt und alſo fuͤr den gewoͤhnlichen Kreis des Erde- lebens uubrauchbar worden iſt: ſo ſcheints natuͤrlich, daß die innere raſtloſe Kraft ſich nach andern Seiten des Weltalls kehre und vielleicht Eindruͤcke empfange, deren eine ungeſtoͤrte Organiſation nicht faͤhig war, deren ſie aber auch nicht be- dorfte. Wie dem aber auch ſei, ſo iſts gewiß ein wohlthaͤti- ger Schleier, der dieſe und jene Welt abſondert und nicht ohne Urſach iſts ſo ſtill und ſtumm um das Grab eines Tod- ten.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 314[294]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/316>, abgerufen am 23.11.2024.