1. Der sonderbare Widerspruch klar, in dem sich der Mensch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt an ihr als seiner Wohnstäte; als Mensch hat er den Samen der Unsterblichkeit in sich, der einen andern Pflanzgarten fo- dert. Als Thier kann er seine Bedürfnisse befriedigen und Menschen, die mit ihnen zufrieden sind, befinden sich sehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver- folgt, findet er überall Unvollkommenheiten und Stückwerk; das Edelste ist auf der Erde nie ausgeführt worden, das Reinste [h]at selten Bestand und Dauer gewonnen: für die Kräfte unsers Geistes und Herzens ist dieser Schauplatz im- mer nur eine Uebungs- und Prüfungsstäte. Die Geschichte unsers Geschlechts mit ihren Versuchen, Schicksalen, Unter- nehmungen und Revolutionen beweiset dies sattsam. Hie und da kam ein Weiser, ein Guter und streuete Gedanken, Rathschläge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel- len kreiseten sich umher, aber der Strom riß sie hin und nahm ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Absichten sank zu Grunde. Narren herrschten über die Rathschläge der Wei- sen und Verschwender erbten die Schätze des Geistes ihrer sammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menschen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet ist: so wenig ist die runde, sich immer bewegende Erde eine Werkstäte bleiben- der Kunstwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Lustschloß
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1. Der ſonderbare Widerſpruch klar, in dem ſich der Menſch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt an ihr als ſeiner Wohnſtaͤte; als Menſch hat er den Samen der Unſterblichkeit in ſich, der einen andern Pflanzgarten fo- dert. Als Thier kann er ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen und Menſchen, die mit ihnen zufrieden ſind, befinden ſich ſehr wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver- folgt, findet er uͤberall Unvollkommenheiten und Stuͤckwerk; das Edelſte iſt auf der Erde nie ausgefuͤhrt worden, das Reinſte [h]at ſelten Beſtand und Dauer gewonnen: fuͤr die Kraͤfte unſers Geiſtes und Herzens iſt dieſer Schauplatz im- mer nur eine Uebungs- und Pruͤfungsſtaͤte. Die Geſchichte unſers Geſchlechts mit ihren Verſuchen, Schickſalen, Unter- nehmungen und Revolutionen beweiſet dies ſattſam. Hie und da kam ein Weiſer, ein Guter und ſtreuete Gedanken, Rathſchlaͤge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel- len kreiſeten ſich umher, aber der Strom riß ſie hin und nahm ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Abſichten ſank zu Grunde. Narren herrſchten uͤber die Rathſchlaͤge der Wei- ſen und Verſchwender erbten die Schaͤtze des Geiſtes ihrer ſammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menſchen hienieden auf eine Ewigkeit berechnet iſt: ſo wenig iſt die runde, ſich immer bewegende Erde eine Werkſtaͤte bleiben- der Kunſtwerke, ein Garten ewiger Pflanzen, ein Luſtſchloß
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[309[289]/0311]
1. Der ſonderbare Widerſpruch klar, in dem ſich
der Menſch zeiget. Als Thier dienet er der Erde und hangt
an ihr als ſeiner Wohnſtaͤte; als Menſch hat er den Samen
der Unſterblichkeit in ſich, der einen andern Pflanzgarten fo-
dert. Als Thier kann er ſeine Beduͤrfniſſe befriedigen und
Menſchen, die mit ihnen zufrieden ſind, befinden ſich ſehr
wohl hienieden. Sobald er irgend eine edlere Anlage ver-
folgt, findet er uͤberall Unvollkommenheiten und Stuͤckwerk;
das Edelſte iſt auf der Erde nie ausgefuͤhrt worden, das
Reinſte hat ſelten Beſtand und Dauer gewonnen: fuͤr die
Kraͤfte unſers Geiſtes und Herzens iſt dieſer Schauplatz im-
mer nur eine Uebungs- und Pruͤfungsſtaͤte. Die Geſchichte
unſers Geſchlechts mit ihren Verſuchen, Schickſalen, Unter-
nehmungen und Revolutionen beweiſet dies ſattſam. Hie
und da kam ein Weiſer, ein Guter und ſtreuete Gedanken,
Rathſchlaͤge und Thaten in die Fluth der Zeiten; einige Wel-
len kreiſeten ſich umher, aber der Strom riß ſie hin und nahm
ihre Spur weg; das Kleinod ihrer edlen Abſichten ſank zu
Grunde. Narren herrſchten uͤber die Rathſchlaͤge der Wei-
ſen und Verſchwender erbten die Schaͤtze des Geiſtes ihrer
ſammlenden Eltern. So wenig das Leben des Menſchen
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 309[289]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/311>, abgerufen am 23.11.2024.
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