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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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Körper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert
an die Jdee, und bringt sie aus einem andern Geist zu uns
herüber; aber es ist sie nicht selbst, und eben so wenig ist das
materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speise zu-
nimmt, nimmt unser Geist durch Jdeen zu, ja wir bemerken
bei ihm eben die Gesetze der Aßimilation, des Wachs-
thums
und der Hervorbringung, nur nicht auf eine kör-
perliche, sondern eine ihm eigne Weise. Auch Er kann sich
mit Nahrung überfüllen, daß er sich dieselbe nicht zuzueignen
und in sich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym-
metrie seiner geistigen Kräfte, von welcher jede Abweichung
Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verrü-
ckung wird: auch Er endlich treibet dieses Geschäft seines
innern Lebens mit einer genialischen Kraft, in welcher sich Liebe
und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu-
neigung zu dem was seiner Natur ist, wie beim irrdischen
Leben äußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwärmerei
zu reden) ein innerer geistiger Mensch gebildet, der seiner
eignen Natur ist und den Körper nur als Werkzeug gebrau-
chet, ja der seiner eignen Natur zufolge, auch bei den ärg-
sten Zerrüttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele
durch Krankheit oder gewaltsame Zustände der Leidenschaften
von ihrem Körper getrennt und gleichsam gezwungen ist, in
ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: desto sonderbarere Erschei-

nungen

Koͤrper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert
an die Jdee, und bringt ſie aus einem andern Geiſt zu uns
heruͤber; aber es iſt ſie nicht ſelbſt, und eben ſo wenig iſt das
materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speiſe zu-
nimmt, nimmt unſer Geiſt durch Jdeen zu, ja wir bemerken
bei ihm eben die Geſetze der Aßimilation, des Wachs-
thums
und der Hervorbringung, nur nicht auf eine koͤr-
perliche, ſondern eine ihm eigne Weiſe. Auch Er kann ſich
mit Nahrung uͤberfuͤllen, daß er ſich dieſelbe nicht zuzueignen
und in ſich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym-
metrie ſeiner geiſtigen Kraͤfte, von welcher jede Abweichung
Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verruͤ-
ckung wird: auch Er endlich treibet dieſes Geſchaͤft ſeines
innern Lebens mit einer genialiſchen Kraft, in welcher ſich Liebe
und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu-
neigung zu dem was ſeiner Natur iſt, wie beim irrdiſchen
Leben aͤußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwaͤrmerei
zu reden) ein innerer geiſtiger Menſch gebildet, der ſeiner
eignen Natur iſt und den Koͤrper nur als Werkzeug gebrau-
chet, ja der ſeiner eignen Natur zufolge, auch bei den aͤrg-
ſten Zerruͤttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele
durch Krankheit oder gewaltſame Zuſtaͤnde der Leidenſchaften
von ihrem Koͤrper getrennt und gleichſam gezwungen iſt, in
ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: deſto ſonderbarere Erſchei-

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[292[272]/0294] Koͤrper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert an die Jdee, und bringt ſie aus einem andern Geiſt zu uns heruͤber; aber es iſt ſie nicht ſelbſt, und eben ſo wenig iſt das materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speiſe zu- nimmt, nimmt unſer Geiſt durch Jdeen zu, ja wir bemerken bei ihm eben die Geſetze der Aßimilation, des Wachs- thums und der Hervorbringung, nur nicht auf eine koͤr- perliche, ſondern eine ihm eigne Weiſe. Auch Er kann ſich mit Nahrung uͤberfuͤllen, daß er ſich dieſelbe nicht zuzueignen und in ſich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym- metrie ſeiner geiſtigen Kraͤfte, von welcher jede Abweichung Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verruͤ- ckung wird: auch Er endlich treibet dieſes Geſchaͤft ſeines innern Lebens mit einer genialiſchen Kraft, in welcher ſich Liebe und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu- neigung zu dem was ſeiner Natur iſt, wie beim irrdiſchen Leben aͤußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwaͤrmerei zu reden) ein innerer geiſtiger Menſch gebildet, der ſeiner eignen Natur iſt und den Koͤrper nur als Werkzeug gebrau- chet, ja der ſeiner eignen Natur zufolge, auch bei den aͤrg- ſten Zerruͤttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele durch Krankheit oder gewaltſame Zuſtaͤnde der Leidenſchaften von ihrem Koͤrper getrennt und gleichſam gezwungen iſt, in ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: deſto ſonderbarere Erſchei- nungen

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 292[272]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/294>, abgerufen am 27.11.2024.