Körper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert an die Jdee, und bringt sie aus einem andern Geist zu uns herüber; aber es ist sie nicht selbst, und eben so wenig ist das materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speise zu- nimmt, nimmt unser Geist durch Jdeen zu, ja wir bemerken bei ihm eben die Gesetze der Aßimilation, des Wachs- thums und der Hervorbringung, nur nicht auf eine kör- perliche, sondern eine ihm eigne Weise. Auch Er kann sich mit Nahrung überfüllen, daß er sich dieselbe nicht zuzueignen und in sich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym- metrie seiner geistigen Kräfte, von welcher jede Abweichung Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verrü- ckung wird: auch Er endlich treibet dieses Geschäft seines innern Lebens mit einer genialischen Kraft, in welcher sich Liebe und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu- neigung zu dem was seiner Natur ist, wie beim irrdischen Leben äußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwärmerei zu reden) ein innerer geistiger Mensch gebildet, der seiner eignen Natur ist und den Körper nur als Werkzeug gebrau- chet, ja der seiner eignen Natur zufolge, auch bei den ärg- sten Zerrüttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele durch Krankheit oder gewaltsame Zustände der Leidenschaften von ihrem Körper getrennt und gleichsam gezwungen ist, in ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: desto sonderbarere Erschei-
nungen
Koͤrper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert an die Jdee, und bringt ſie aus einem andern Geiſt zu uns heruͤber; aber es iſt ſie nicht ſelbſt, und eben ſo wenig iſt das materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speiſe zu- nimmt, nimmt unſer Geiſt durch Jdeen zu, ja wir bemerken bei ihm eben die Geſetze der Aßimilation, des Wachs- thums und der Hervorbringung, nur nicht auf eine koͤr- perliche, ſondern eine ihm eigne Weiſe. Auch Er kann ſich mit Nahrung uͤberfuͤllen, daß er ſich dieſelbe nicht zuzueignen und in ſich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym- metrie ſeiner geiſtigen Kraͤfte, von welcher jede Abweichung Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verruͤ- ckung wird: auch Er endlich treibet dieſes Geſchaͤft ſeines innern Lebens mit einer genialiſchen Kraft, in welcher ſich Liebe und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu- neigung zu dem was ſeiner Natur iſt, wie beim irrdiſchen Leben aͤußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwaͤrmerei zu reden) ein innerer geiſtiger Menſch gebildet, der ſeiner eignen Natur iſt und den Koͤrper nur als Werkzeug gebrau- chet, ja der ſeiner eignen Natur zufolge, auch bei den aͤrg- ſten Zerruͤttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele durch Krankheit oder gewaltſame Zuſtaͤnde der Leidenſchaften von ihrem Koͤrper getrennt und gleichſam gezwungen iſt, in ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: deſto ſonderbarere Erſchei-
nungen
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0294"n="292[272]"/>
Koͤrper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert<lb/>
an die Jdee, und bringt ſie aus einem andern Geiſt zu uns<lb/>
heruͤber; aber es iſt ſie nicht ſelbſt, und eben ſo wenig iſt das<lb/>
materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speiſe zu-<lb/>
nimmt, nimmt unſer Geiſt durch Jdeen zu, ja wir bemerken<lb/>
bei ihm eben die Geſetze der <hirendition="#fr">Aßimilation</hi>, des <hirendition="#fr">Wachs-<lb/>
thums</hi> und der <hirendition="#fr">Hervorbringung</hi>, nur nicht auf eine koͤr-<lb/>
perliche, ſondern eine ihm eigne Weiſe. Auch Er kann ſich<lb/>
mit Nahrung uͤberfuͤllen, daß er ſich dieſelbe nicht zuzueignen<lb/>
und in ſich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym-<lb/>
metrie ſeiner geiſtigen Kraͤfte, von welcher jede Abweichung<lb/>
Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verruͤ-<lb/>
ckung wird: auch Er endlich treibet dieſes Geſchaͤft ſeines<lb/>
innern Lebens mit einer genialiſchen Kraft, in welcher ſich Liebe<lb/>
und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu-<lb/>
neigung zu dem was ſeiner Natur iſt, wie beim irrdiſchen<lb/>
Leben aͤußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwaͤrmerei<lb/>
zu reden) ein <hirendition="#fr">innerer geiſtiger Menſch</hi> gebildet, der ſeiner<lb/>
eignen Natur iſt und den Koͤrper nur als Werkzeug gebrau-<lb/>
chet, ja der ſeiner eignen Natur zufolge, auch bei den aͤrg-<lb/>ſten Zerruͤttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele<lb/>
durch Krankheit oder gewaltſame Zuſtaͤnde der Leidenſchaften<lb/>
von ihrem Koͤrper getrennt und gleichſam gezwungen iſt, in<lb/>
ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: deſto ſonderbarere Erſchei-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">nungen</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[292[272]/0294]
Koͤrper und Seele, Organ und Kraft. Das Wort erinnert
an die Jdee, und bringt ſie aus einem andern Geiſt zu uns
heruͤber; aber es iſt ſie nicht ſelbſt, und eben ſo wenig iſt das
materielle Organ Gedanke. Wie der Leib durch Speiſe zu-
nimmt, nimmt unſer Geiſt durch Jdeen zu, ja wir bemerken
bei ihm eben die Geſetze der Aßimilation, des Wachs-
thums und der Hervorbringung, nur nicht auf eine koͤr-
perliche, ſondern eine ihm eigne Weiſe. Auch Er kann ſich
mit Nahrung uͤberfuͤllen, daß er ſich dieſelbe nicht zuzueignen
und in ſich zu verwandeln vermag: auch Er hat eine Sym-
metrie ſeiner geiſtigen Kraͤfte, von welcher jede Abweichung
Krankheit, entweder Schwachheit oder Fieber d. i. Verruͤ-
ckung wird: auch Er endlich treibet dieſes Geſchaͤft ſeines
innern Lebens mit einer genialiſchen Kraft, in welcher ſich Liebe
und Haß, Abneigung gegen das mit ihm Ungleichartige, Zu-
neigung zu dem was ſeiner Natur iſt, wie beim irrdiſchen
Leben aͤußert. Kurz, es wird in uns, (ohne Schwaͤrmerei
zu reden) ein innerer geiſtiger Menſch gebildet, der ſeiner
eignen Natur iſt und den Koͤrper nur als Werkzeug gebrau-
chet, ja der ſeiner eignen Natur zufolge, auch bei den aͤrg-
ſten Zerruͤttungen der Organe handelt. Jemehr die Seele
durch Krankheit oder gewaltſame Zuſtaͤnde der Leidenſchaften
von ihrem Koͤrper getrennt und gleichſam gezwungen iſt, in
ihrer eignen Jdeenwelt zu wandeln: deſto ſonderbarere Erſchei-
nungen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 292[272]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/294>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.