mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geschöpf die Nerven aller Sinne so zusammen, daß Ein sichtbarer Punkt sie vereine. Noch weniger gilt dieses von den Nerven des gesammten Körpers, in dessen kleinstem Gliede sich doch die Seele gegenwärtig fühlt und in ihm wirket. Also ists eine schwache unphysiologische Vorstellung, sich das Gehirns als einen Selbstdenker, den Nervensaft als einen Selbstempfin der zu denken; vielmehr sind es, allen Erfahrungen zufolge, eigne psychologische Gesetze, nach denen die Seele ihre Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß es jedesmal ihrem Organ gemäß und demselben harmonisch geschehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Künst- lerin nichts thun könne u. f.; das alles leidet keinen Zwei- fel, ändert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die Art, mit dem die Seele wirkt, das Wesen ihrer Begriffe kommt hier in Betrachtung. Und da ists
1. unläugbar, daß der Gedanke, ja die erste Wahr- nehmung, damit sich die Seele einen äußern Gegenstand vor- stellt, ganz ein andres Ding sei, als was ihr der Sinn zuführet. Wir nennen es ein Bild; es ist aber nicht das Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele ist ein geistiges, von ihr selbst bei Veranlassung der Sinne ge-
schaf-
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mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geſchoͤpf die Nerven aller Sinne ſo zuſammen, daß Ein ſichtbarer Punkt ſie vereine. Noch weniger gilt dieſes von den Nerven des geſammten Koͤrpers, in deſſen kleinſtem Gliede ſich doch die Seele gegenwaͤrtig fuͤhlt und in ihm wirket. Alſo iſts eine ſchwache unphyſiologiſche Vorſtellung, ſich das Gehirns als einen Selbſtdenker, den Nervenſaft als einen Selbſtempfin der zu denken; vielmehr ſind es, allen Erfahrungen zufolge, eigne pſychologiſche Geſetze, nach denen die Seele ihre Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß es jedesmal ihrem Organ gemaͤß und demſelben harmoniſch geſchehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Kuͤnſt- lerin nichts thun koͤnne u. f.; das alles leidet keinen Zwei- fel, aͤndert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die Art, mit dem die Seele wirkt, das Weſen ihrer Begriffe kommt hier in Betrachtung. Und da iſts
1. unlaͤugbar, daß der Gedanke, ja die erſte Wahr- nehmung, damit ſich die Seele einen aͤußern Gegenſtand vor- ſtellt, ganz ein andres Ding ſei, als was ihr der Sinn zufuͤhret. Wir nennen es ein Bild; es iſt aber nicht das Bild d. i. der lichte Punkt, der aufs Auge gemahlt wird und der das Gehirn gar nicht erreichet; das Bild der Seele iſt ein geiſtiges, von ihr ſelbſt bei Veranlaſſung der Sinne ge-
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[289[269]/0291]
mal die Nerven beider Augen und bei keinem Geſchoͤpf die
Nerven aller Sinne ſo zuſammen, daß Ein ſichtbarer Punkt
ſie vereine. Noch weniger gilt dieſes von den Nerven des
geſammten Koͤrpers, in deſſen kleinſtem Gliede ſich doch die
Seele gegenwaͤrtig fuͤhlt und in ihm wirket. Alſo iſts eine
ſchwache unphyſiologiſche Vorſtellung, ſich das Gehirns als
einen Selbſtdenker, den Nervenſaft als einen Selbſtempfin
der zu denken; vielmehr ſind es, allen Erfahrungen zufolge,
eigne pſychologiſche Geſetze, nach denen die Seele ihre
Verrichtungen vornimmt und ihre Begriffe verbindet. Daß
es jedesmal ihrem Organ gemaͤß und demſelben harmoniſch
geſchehe, daß wenn das Werkzeug nichts taugt, auch die Kuͤnſt-
lerin nichts thun koͤnne u. f.; das alles leidet keinen Zwei-
fel, aͤndert aber auch nichts im Begrif der Sache. Die
Art, mit dem die Seele wirkt, das Weſen ihrer Begriffe
kommt hier in Betrachtung. Und da iſts
1. unlaͤugbar, daß der Gedanke, ja die erſte Wahr-
nehmung, damit ſich die Seele einen aͤußern Gegenſtand vor-
ſtellt, ganz ein andres Ding ſei, als was ihr der Sinn
zufuͤhret. Wir nennen es ein Bild; es iſt aber nicht das
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 289[269]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/291>, abgerufen am 23.11.2024.
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