So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die niedrige Natur und sollte er bei der edelsten und mächtigsten still stehen oder zurückgehen müssen? Was das Thier zu sei- ner Nahrung bedarf, sind nur Pflanzenartige Kräfte, damit es Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe- sens. Selbst das Blut ist nur Raubthieren eine Erquickung; und bei Nationen, die durch Leidenschaft oder Nothdurft da- zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers bemerket, zu dessen lebendiger Speise sie sich grausam ent- schlossen. Also ist das Reich der Gedanken und Reize, wie es auch seine Natur fodert, hier ohne sichtbaren Fort- und Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem ersten Gesetz des menschlichen Gefühls gemacht, jedes Thier das noch lebet in seinem Blut, zur Speise nicht zu begehren. Offenbar sind alle diese Kräfte von geistiger Art; daher man vielleicht mancher Hypothesen über den Nervensaft als über ein tastbares Vehikulum der Empfindungen hätte überho- ben seyn mögen. Der Nervensaft, wenn er da ist, erhält die Nerven und das Gehirn gesund, so daß sie ohne ihn nur unbrauchbare Stricke und Gefäße wären; sein Nutze ist also körperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun- gen und Kräften ist, was für Organe sie auch gebrauchen möge, überall geistig.
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So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die niedrige Natur und ſollte er bei der edelſten und maͤchtigſten ſtill ſtehen oder zuruͤckgehen muͤſſen? Was das Thier zu ſei- ner Nahrung bedarf, ſind nur Pflanzenartige Kraͤfte, damit es Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe- ſens. Selbſt das Blut iſt nur Raubthieren eine Erquickung; und bei Nationen, die durch Leidenſchaft oder Nothdurft da- zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers bemerket, zu deſſen lebendiger Speiſe ſie ſich grauſam ent- ſchloſſen. Alſo iſt das Reich der Gedanken und Reize, wie es auch ſeine Natur fodert, hier ohne ſichtbaren Fort- und Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem erſten Geſetz des menſchlichen Gefuͤhls gemacht, jedes Thier das noch lebet in ſeinem Blut, zur Speiſe nicht zu begehren. Offenbar ſind alle dieſe Kraͤfte von geiſtiger Art; daher man vielleicht mancher Hypotheſen uͤber den Nervenſaft als uͤber ein taſtbares Vehikulum der Empfindungen haͤtte uͤberho- ben ſeyn moͤgen. Der Nervenſaft, wenn er da iſt, erhaͤlt die Nerven und das Gehirn geſund, ſo daß ſie ohne ihn nur unbrauchbare Stricke und Gefaͤße waͤren; ſein Nutze iſt alſo koͤrperlich und die Wirkung der Seele nach ihren Empfindun- gen und Kraͤften iſt, was fuͤr Organe ſie auch gebrauchen moͤge, uͤberall geiſtig.
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[285[265]/0287]
So gehet der Stufengang der Ausarbeitung durch die
niedrige Natur und ſollte er bei der edelſten und maͤchtigſten
ſtill ſtehen oder zuruͤckgehen muͤſſen? Was das Thier zu ſei-
ner Nahrung bedarf, ſind nur Pflanzenartige Kraͤfte, damit es
Pflanzenartige Theile belebe; der Saft der Muskeln und
Nerven dient nicht mehr zur Nahrung irgend eines Erdwe-
ſens. Selbſt das Blut iſt nur Raubthieren eine Erquickung;
und bei Nationen, die durch Leidenſchaft oder Nothdurft da-
zu gezwungen wurden, hat man auch Neigungen des Thiers
bemerket, zu deſſen lebendiger Speiſe ſie ſich grauſam ent-
ſchloſſen. Alſo iſt das Reich der Gedanken und Reize, wie
es auch ſeine Natur fodert, hier ohne ſichtbaren Fort- und
Uebergang und die Bildung der Nationen hat es zu einem
erſten Geſetz des menſchlichen Gefuͤhls gemacht, jedes Thier
das noch lebet in ſeinem Blut, zur Speiſe nicht zu begehren.
Offenbar ſind alle dieſe Kraͤfte von geiſtiger Art; daher man
vielleicht mancher Hypotheſen uͤber den Nervenſaft als uͤber
ein taſtbares Vehikulum der Empfindungen haͤtte uͤberho-
ben ſeyn moͤgen. Der Nervenſaft, wenn er da iſt, erhaͤlt
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unbrauchbare Stricke und Gefaͤße waͤren; ſein Nutze iſt alſo
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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 285[265]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/287>, abgerufen am 23.11.2024.
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