Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

daß ers weiß und will, Ursachen der Dinge nachspähe, ih-
ren Zusammenhang errathe und Dich also finde, du großer
Zusammenhang aller Dinge, Wesen der Wesen. Das Jn-
nere deiner Natur erkennet er nicht, da er keine Kraft Eines
Dinges von innen einsieht; ja wenn er dich gestalten wollte,
hat er geirret und muß irren: denn du bist Gestaltlos, ob-
wohl die Erste einzige Ursache aller Gestalten. Jndessen ist
auch jeder falsche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder
trügliche Altar, den er dir baute, ein untrügliches Denkmal
nicht nur deines Daseyns sondern auch der Macht des Men-
schen dich zu erkennen und anzubeten. Religion ist also, auch
schon als Verstandesübung betrachtet, die höchste Humanität,
die erhabenste Blüthe der menschlichen Seele.

Aber sie ist mehr als dies: eine Uebung des menschli-
chen Herzens und die reinste Richtung seiner Fähigkeiten und
Kräfte. Wenn der Mensch zur Freiheit erschaffen ist und
auf der Erde kein Gesetz hat als das er sich selbst auflegt: so
muß er das verwildertste Geschöpf werden, wenn er nicht
bald das Gesetz Gottes in der Natur erkennet und der Voll-
kommenheit des Vaters als Kind nachstrebet. Thiere sind
gebohrne Knechte im großen Hause der irrdischen Haus-
haltung; sklavische Furcht vor Gesetzen und Strafen ist
auch das gewisseste Merkmal thierischer Menschen. Der

wahre
G g 3

daß ers weiß und will, Urſachen der Dinge nachſpaͤhe, ih-
ren Zuſammenhang errathe und Dich alſo finde, du großer
Zuſammenhang aller Dinge, Weſen der Weſen. Das Jn-
nere deiner Natur erkennet er nicht, da er keine Kraft Eines
Dinges von innen einſieht; ja wenn er dich geſtalten wollte,
hat er geirret und muß irren: denn du biſt Geſtaltlos, ob-
wohl die Erſte einzige Urſache aller Geſtalten. Jndeſſen iſt
auch jeder falſche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder
truͤgliche Altar, den er dir baute, ein untruͤgliches Denkmal
nicht nur deines Daſeyns ſondern auch der Macht des Men-
ſchen dich zu erkennen und anzubeten. Religion iſt alſo, auch
ſchon als Verſtandesuͤbung betrachtet, die hoͤchſte Humanitaͤt,
die erhabenſte Bluͤthe der menſchlichen Seele.

Aber ſie iſt mehr als dies: eine Uebung des menſchli-
chen Herzens und die reinſte Richtung ſeiner Faͤhigkeiten und
Kraͤfte. Wenn der Menſch zur Freiheit erſchaffen iſt und
auf der Erde kein Geſetz hat als das er ſich ſelbſt auflegt: ſo
muß er das verwildertſte Geſchoͤpf werden, wenn er nicht
bald das Geſetz Gottes in der Natur erkennet und der Voll-
kommenheit des Vaters als Kind nachſtrebet. Thiere ſind
gebohrne Knechte im großen Hauſe der irrdiſchen Haus-
haltung; ſklaviſche Furcht vor Geſetzen und Strafen iſt
auch das gewiſſeſte Merkmal thieriſcher Menſchen. Der

wahre
G g 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0259" n="257[237]"/>
daß ers weiß und will, Ur&#x017F;achen der Dinge nach&#x017F;pa&#x0364;he, ih-<lb/>
ren Zu&#x017F;ammenhang errathe und <hi rendition="#fr">Dich</hi> al&#x017F;o finde, du großer<lb/>
Zu&#x017F;ammenhang aller Dinge, We&#x017F;en der We&#x017F;en. Das Jn-<lb/>
nere deiner Natur erkennet er nicht, da er keine Kraft Eines<lb/>
Dinges von innen ein&#x017F;ieht; ja wenn er dich ge&#x017F;talten wollte,<lb/>
hat er geirret und muß irren: denn du bi&#x017F;t Ge&#x017F;taltlos, ob-<lb/>
wohl die Er&#x017F;te einzige Ur&#x017F;ache aller Ge&#x017F;talten. Jnde&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t<lb/>
auch jeder fal&#x017F;che Schimmer von dir dennoch Licht und jeder<lb/>
tru&#x0364;gliche Altar, den er dir baute, ein untru&#x0364;gliches Denkmal<lb/>
nicht nur deines Da&#x017F;eyns &#x017F;ondern auch der Macht des Men-<lb/>
&#x017F;chen dich zu erkennen und anzubeten. Religion i&#x017F;t al&#x017F;o, auch<lb/>
&#x017F;chon als Ver&#x017F;tandesu&#x0364;bung betrachtet, die ho&#x0364;ch&#x017F;te Humanita&#x0364;t,<lb/>
die erhaben&#x017F;te Blu&#x0364;the der men&#x017F;chlichen Seele.</p><lb/>
          <p>Aber &#x017F;ie i&#x017F;t mehr als dies: eine Uebung des men&#x017F;chli-<lb/>
chen Herzens und die rein&#x017F;te Richtung &#x017F;einer Fa&#x0364;higkeiten und<lb/>
Kra&#x0364;fte. Wenn der Men&#x017F;ch zur Freiheit er&#x017F;chaffen i&#x017F;t und<lb/>
auf der Erde kein Ge&#x017F;etz hat als das er &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t auflegt: &#x017F;o<lb/>
muß er das verwildert&#x017F;te Ge&#x017F;cho&#x0364;pf werden, wenn er nicht<lb/>
bald das Ge&#x017F;etz Gottes in der Natur erkennet und der Voll-<lb/>
kommenheit des Vaters als Kind nach&#x017F;trebet. Thiere &#x017F;ind<lb/>
gebohrne Knechte im großen Hau&#x017F;e der irrdi&#x017F;chen Haus-<lb/>
haltung; &#x017F;klavi&#x017F;che Furcht vor Ge&#x017F;etzen und Strafen i&#x017F;t<lb/>
auch das gewi&#x017F;&#x017F;e&#x017F;te Merkmal thieri&#x017F;cher Men&#x017F;chen. Der<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">G g 3</fw><fw place="bottom" type="catch">wahre</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257[237]/0259] daß ers weiß und will, Urſachen der Dinge nachſpaͤhe, ih- ren Zuſammenhang errathe und Dich alſo finde, du großer Zuſammenhang aller Dinge, Weſen der Weſen. Das Jn- nere deiner Natur erkennet er nicht, da er keine Kraft Eines Dinges von innen einſieht; ja wenn er dich geſtalten wollte, hat er geirret und muß irren: denn du biſt Geſtaltlos, ob- wohl die Erſte einzige Urſache aller Geſtalten. Jndeſſen iſt auch jeder falſche Schimmer von dir dennoch Licht und jeder truͤgliche Altar, den er dir baute, ein untruͤgliches Denkmal nicht nur deines Daſeyns ſondern auch der Macht des Men- ſchen dich zu erkennen und anzubeten. Religion iſt alſo, auch ſchon als Verſtandesuͤbung betrachtet, die hoͤchſte Humanitaͤt, die erhabenſte Bluͤthe der menſchlichen Seele. Aber ſie iſt mehr als dies: eine Uebung des menſchli- chen Herzens und die reinſte Richtung ſeiner Faͤhigkeiten und Kraͤfte. Wenn der Menſch zur Freiheit erſchaffen iſt und auf der Erde kein Geſetz hat als das er ſich ſelbſt auflegt: ſo muß er das verwildertſte Geſchoͤpf werden, wenn er nicht bald das Geſetz Gottes in der Natur erkennet und der Voll- kommenheit des Vaters als Kind nachſtrebet. Thiere ſind gebohrne Knechte im großen Hauſe der irrdiſchen Haus- haltung; ſklaviſche Furcht vor Geſetzen und Strafen iſt auch das gewiſſeſte Merkmal thieriſcher Menſchen. Der wahre G g 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/259
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 257[237]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/259>, abgerufen am 23.11.2024.