gattung ist, ist bei ihm seinem Bau nach Kuß und Umar- mung. Kein Thier hat die menschliche Lippe, deren feine Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am spä- testen gebildet wird; gleichsam die letzte Bezeichnung des Fingers der Liebe, daß diese Lippe sich schön und verstandreich schließen sollte. Von keinem Thier also gilt der schamhafte Ausdruck der alten Sprache, daß es sein Weib erkenne. Die alte Fabel sagt, daß beide Geschlechter einst, wie Blu- men, eine Androgyne gewesen aber getheilt worden; sie woll- te mit dieser und andern sinnreichen Dichtungen als Fabel den Vorzug der menschlichen Liebe vor den Thieren verhüllet sagen. Auch daß der menschliche Trieb nicht wie bei diesen schlechthin einer Jahrszeit unterworfen ist, (obwohl über die Revolutionen hiezu im menschlichen Körper noch keine tüch- tige Betrachtungen angestellet worden) zeigt offenbar, daß er nicht von der Nothwendigkeit sondern vom Liebreiz abhan- gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli- gen Mäßigung so überlassen werden sollte, wie alles was der Mensch um und an sich träget. Auch die Liebe sollte bei dem Menschen human seyn, dazu bestimmte die Natur, außer sei- ner Gestalt, auch die spätere Entwicklung, die Dauer und das Verhältniß des Triebes in beiden Geschlechtern; ja sie brachte diesen unter das Gesetz eines gemeinschaft- lichen freiwilligen Bundes und der freundschaftlichsten
Mit-
gattung iſt, iſt bei ihm ſeinem Bau nach Kuß und Umar- mung. Kein Thier hat die menſchliche Lippe, deren feine Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am ſpaͤ- teſten gebildet wird; gleichſam die letzte Bezeichnung des Fingers der Liebe, daß dieſe Lippe ſich ſchoͤn und verſtandreich ſchließen ſollte. Von keinem Thier alſo gilt der ſchamhafte Ausdruck der alten Sprache, daß es ſein Weib erkenne. Die alte Fabel ſagt, daß beide Geſchlechter einſt, wie Blu- men, eine Androgyne geweſen aber getheilt worden; ſie woll- te mit dieſer und andern ſinnreichen Dichtungen als Fabel den Vorzug der menſchlichen Liebe vor den Thieren verhuͤllet ſagen. Auch daß der menſchliche Trieb nicht wie bei dieſen ſchlechthin einer Jahrszeit unterworfen iſt, (obwohl uͤber die Revolutionen hiezu im menſchlichen Koͤrper noch keine tuͤch- tige Betrachtungen angeſtellet worden) zeigt offenbar, daß er nicht von der Nothwendigkeit ſondern vom Liebreiz abhan- gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli- gen Maͤßigung ſo uͤberlaſſen werden ſollte, wie alles was der Menſch um und an ſich traͤget. Auch die Liebe ſollte bei dem Menſchen human ſeyn, dazu beſtimmte die Natur, außer ſei- ner Geſtalt, auch die ſpaͤtere Entwicklung, die Dauer und das Verhaͤltniß des Triebes in beiden Geſchlechtern; ja ſie brachte dieſen unter das Geſetz eines gemeinſchaft- lichen freiwilligen Bundes und der freundſchaftlichſten
Mit-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0248"n="246[226]"/>
gattung iſt, iſt bei ihm ſeinem Bau nach Kuß und Umar-<lb/>
mung. Kein Thier hat die menſchliche Lippe, deren feine<lb/>
Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am ſpaͤ-<lb/>
teſten gebildet wird; gleichſam die letzte Bezeichnung des<lb/>
Fingers der Liebe, daß dieſe Lippe ſich ſchoͤn und verſtandreich<lb/>ſchließen ſollte. Von keinem Thier alſo gilt der ſchamhafte<lb/>
Ausdruck der alten Sprache, daß es ſein Weib <hirendition="#fr">erkenne</hi>.<lb/>
Die alte Fabel ſagt, daß beide Geſchlechter einſt, wie Blu-<lb/>
men, eine Androgyne geweſen aber getheilt worden; ſie woll-<lb/>
te mit dieſer und andern ſinnreichen Dichtungen als Fabel<lb/>
den Vorzug der menſchlichen Liebe vor den Thieren verhuͤllet<lb/>ſagen. Auch daß der menſchliche Trieb nicht wie bei dieſen<lb/>ſchlechthin einer Jahrszeit unterworfen iſt, (obwohl uͤber die<lb/>
Revolutionen hiezu im menſchlichen Koͤrper noch keine tuͤch-<lb/>
tige Betrachtungen angeſtellet worden) zeigt offenbar, daß<lb/>
er nicht von der Nothwendigkeit ſondern vom Liebreiz abhan-<lb/>
gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli-<lb/>
gen Maͤßigung ſo uͤberlaſſen werden ſollte, wie alles was der<lb/>
Menſch um und an ſich traͤget. Auch die Liebe ſollte bei dem<lb/>
Menſchen <hirendition="#fr">human</hi>ſeyn, dazu beſtimmte die Natur, außer ſei-<lb/>
ner Geſtalt, auch die ſpaͤtere Entwicklung, die Dauer und<lb/>
das Verhaͤltniß des Triebes in beiden Geſchlechtern; ja<lb/>ſie brachte dieſen unter das Geſetz eines <hirendition="#fr">gemeinſchaft-<lb/>
lichen freiwilligen Bundes</hi> und der freundſchaftlichſten<lb/><fwplace="bottom"type="catch">Mit-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[246[226]/0248]
gattung iſt, iſt bei ihm ſeinem Bau nach Kuß und Umar-
mung. Kein Thier hat die menſchliche Lippe, deren feine
Oberrinne bei der Frucht des Mutterleibes im Antlitz am ſpaͤ-
teſten gebildet wird; gleichſam die letzte Bezeichnung des
Fingers der Liebe, daß dieſe Lippe ſich ſchoͤn und verſtandreich
ſchließen ſollte. Von keinem Thier alſo gilt der ſchamhafte
Ausdruck der alten Sprache, daß es ſein Weib erkenne.
Die alte Fabel ſagt, daß beide Geſchlechter einſt, wie Blu-
men, eine Androgyne geweſen aber getheilt worden; ſie woll-
te mit dieſer und andern ſinnreichen Dichtungen als Fabel
den Vorzug der menſchlichen Liebe vor den Thieren verhuͤllet
ſagen. Auch daß der menſchliche Trieb nicht wie bei dieſen
ſchlechthin einer Jahrszeit unterworfen iſt, (obwohl uͤber die
Revolutionen hiezu im menſchlichen Koͤrper noch keine tuͤch-
tige Betrachtungen angeſtellet worden) zeigt offenbar, daß
er nicht von der Nothwendigkeit ſondern vom Liebreiz abhan-
gen, der Vernunft unterworfen bleiben und einer freiwilli-
gen Maͤßigung ſo uͤberlaſſen werden ſollte, wie alles was der
Menſch um und an ſich traͤget. Auch die Liebe ſollte bei dem
Menſchen human ſeyn, dazu beſtimmte die Natur, außer ſei-
ner Geſtalt, auch die ſpaͤtere Entwicklung, die Dauer und
das Verhaͤltniß des Triebes in beiden Geſchlechtern; ja
ſie brachte dieſen unter das Geſetz eines gemeinſchaft-
lichen freiwilligen Bundes und der freundſchaftlichſten
Mit-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 246[226]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/248>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.