Hieraus erhellet, was menschliche Vernunft sei: ein Name, der in den neuern Schriften so oft als ein angebohr- nes Avtomat gebraucht wird und als solches nichts als Mis- deutung giebet. Theoretisch und praktisch ist Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Jdeen und Kräfte, zu welcher der Mensch nach seiner Organisation und Lebensweise gebildet worden. Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht: so wenig als wir den innern Zustand eines tiefern Geschöpfs unter uns in- nig einsehn; die Vernunft des Menschen ist menschlich. Von Kindheit auf vergleicht er Jdeen und Eindrücke seiner zumal feinern Sinne, nach der Feinheit und Wahrheit, in der sie ihm diese gewähren, nach der Anzahl, die er em- pfängt und nach der innern Schnellkraft, mit der er sie ver binden lernet. Das hieraus entstandne Eins ist sein Ge- danke und die mancherlei Verknüpfungen dieser Gedanken und Empfindungen zu Urtheilen von dem, was wahr und falsch, gut und böse, Glück und Unglück ist: das ist seine Vernunft, das fortgehende Werk der Bildung des mensch- lichen Lebens. Sie ist ihm nicht angebohren; sondern er hat sie erlangt und nachdem die Eindrücke waren, die er er- langte, die Vorbilder, denen er folgte; nachdem die innere Kraft und Energie war, mit der er diese mancherlei Ein- drücke zur Proportion seines Jnnersten verband, nachdem ist
auch
D d
Hieraus erhellet, was menſchliche Vernunft ſei: ein Name, der in den neuern Schriften ſo oft als ein angebohr- nes Avtomat gebraucht wird und als ſolches nichts als Mis- deutung giebet. Theoretiſch und praktiſch iſt Vernunft nichts als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und Richtung der Jdeen und Kraͤfte, zu welcher der Menſch nach ſeiner Organiſation und Lebensweiſe gebildet worden. Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht: ſo wenig als wir den innern Zuſtand eines tiefern Geſchoͤpfs unter uns in- nig einſehn; die Vernunft des Menſchen iſt menſchlich. Von Kindheit auf vergleicht er Jdeen und Eindruͤcke ſeiner zumal feinern Sinne, nach der Feinheit und Wahrheit, in der ſie ihm dieſe gewaͤhren, nach der Anzahl, die er em- pfaͤngt und nach der innern Schnellkraft, mit der er ſie ver binden lernet. Das hieraus entſtandne Eins iſt ſein Ge- danke und die mancherlei Verknuͤpfungen dieſer Gedanken und Empfindungen zu Urtheilen von dem, was wahr und falſch, gut und boͤſe, Gluͤck und Ungluͤck iſt: das iſt ſeine Vernunft, das fortgehende Werk der Bildung des menſch- lichen Lebens. Sie iſt ihm nicht angebohren; ſondern er hat ſie erlangt und nachdem die Eindruͤcke waren, die er er- langte, die Vorbilder, denen er folgte; nachdem die innere Kraft und Energie war, mit der er dieſe mancherlei Ein- druͤcke zur Proportion ſeines Jnnerſten verband, nachdem iſt
auch
D d
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0231"n="229[209]"/><p>Hieraus erhellet, was menſchliche Vernunft ſei: ein<lb/>
Name, der in den neuern Schriften ſo oft als ein angebohr-<lb/>
nes Avtomat gebraucht wird und als ſolches nichts als Mis-<lb/>
deutung giebet. Theoretiſch und praktiſch iſt Vernunft nichts<lb/>
als etwas <hirendition="#fr">Vernommenes,</hi> eine gelernte Proportion und<lb/>
Richtung der Jdeen und Kraͤfte, zu welcher der Menſch<lb/>
nach ſeiner Organiſation und Lebensweiſe gebildet worden.<lb/>
Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht: ſo wenig als<lb/>
wir den innern Zuſtand eines tiefern Geſchoͤpfs unter uns in-<lb/>
nig einſehn; die Vernunft des Menſchen iſt <hirendition="#fr">menſchlich</hi>.<lb/>
Von Kindheit auf vergleicht er Jdeen und Eindruͤcke ſeiner<lb/>
zumal feinern Sinne, nach der Feinheit und Wahrheit, in<lb/>
der ſie ihm dieſe gewaͤhren, nach der Anzahl, die er em-<lb/>
pfaͤngt und nach der innern Schnellkraft, mit der er ſie ver<lb/>
binden lernet. Das hieraus entſtandne Eins iſt ſein Ge-<lb/>
danke und die mancherlei Verknuͤpfungen dieſer Gedanken<lb/>
und Empfindungen zu Urtheilen von dem, was wahr und<lb/>
falſch, gut und boͤſe, Gluͤck und Ungluͤck iſt: das iſt ſeine<lb/>
Vernunft, das fortgehende Werk der Bildung des menſch-<lb/>
lichen Lebens. Sie iſt ihm nicht angebohren; ſondern er<lb/>
hat ſie erlangt und nachdem die Eindruͤcke waren, die er er-<lb/>
langte, die Vorbilder, denen er folgte; nachdem die innere<lb/>
Kraft und Energie war, mit der er dieſe mancherlei Ein-<lb/>
druͤcke zur Proportion ſeines Jnnerſten verband, nachdem iſt<lb/><fwplace="bottom"type="sig">D d</fw><fwplace="bottom"type="catch">auch</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[229[209]/0231]
Hieraus erhellet, was menſchliche Vernunft ſei: ein
Name, der in den neuern Schriften ſo oft als ein angebohr-
nes Avtomat gebraucht wird und als ſolches nichts als Mis-
deutung giebet. Theoretiſch und praktiſch iſt Vernunft nichts
als etwas Vernommenes, eine gelernte Proportion und
Richtung der Jdeen und Kraͤfte, zu welcher der Menſch
nach ſeiner Organiſation und Lebensweiſe gebildet worden.
Eine Vernunft der Engel kennen wir nicht: ſo wenig als
wir den innern Zuſtand eines tiefern Geſchoͤpfs unter uns in-
nig einſehn; die Vernunft des Menſchen iſt menſchlich.
Von Kindheit auf vergleicht er Jdeen und Eindruͤcke ſeiner
zumal feinern Sinne, nach der Feinheit und Wahrheit, in
der ſie ihm dieſe gewaͤhren, nach der Anzahl, die er em-
pfaͤngt und nach der innern Schnellkraft, mit der er ſie ver
binden lernet. Das hieraus entſtandne Eins iſt ſein Ge-
danke und die mancherlei Verknuͤpfungen dieſer Gedanken
und Empfindungen zu Urtheilen von dem, was wahr und
falſch, gut und boͤſe, Gluͤck und Ungluͤck iſt: das iſt ſeine
Vernunft, das fortgehende Werk der Bildung des menſch-
lichen Lebens. Sie iſt ihm nicht angebohren; ſondern er
hat ſie erlangt und nachdem die Eindruͤcke waren, die er er-
langte, die Vorbilder, denen er folgte; nachdem die innere
Kraft und Energie war, mit der er dieſe mancherlei Ein-
druͤcke zur Proportion ſeines Jnnerſten verband, nachdem iſt
auch
D d
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 229[209]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/231>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.