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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefühl aller
Sinne eins und vereinigt sich durch sie zum schaffenden Ge-
danken, dem das Kunstwerk der Hände und andrer Glieder
nur gehorchet. Das Beispiel der Taub- und Stummge-
bohrnen zeigt, wie wenig der Mensch auch mitten unter
Menschen ohne Sprache zu Jdeen der Vernunft gelange
und in welcher thierischen Wildheit alle seine Triebe bleiben.
Er ahmt nach was sein Auge sieht, Gutes und Böses; und
er ahmt es schlechter als der Affe nach, weil das innere Kri-
terium der Unterscheidung, ja selbst die Sympathie mit sei-
nem Geschlecht ihm fehlet. Man hat Beispiele *), daß ein
Taub- und Stummgebohrner seinen Bruder mordete, da er
ein Schwein morden sah und wühlte, blos der Nachahmung
wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden desselben: schreck-
licher Beweis, wie wenig die gepriesne menschliche Vernunft
und das Gefühl unsrer Gattung durch sich selbst vermöge.
Man kann und muß also die feinen Sprachwerkzeuge als das
Steuerruder unsrer Vernunft und die Rede als den Him-
melsfunken ansehen, der unsre Sinnen und Gedanken all-
mälich in Flammen brachte.


Bei
*) Jn Sacks vertheidigtem Glauben der Christen erinnere ich mich
einen solchen Fall erzählt gefunden zu haben; mehrere derglei-
chen sind mir aus andern Schriften erinnerlich.

durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefuͤhl aller
Sinne eins und vereinigt ſich durch ſie zum ſchaffenden Ge-
danken, dem das Kunſtwerk der Haͤnde und andrer Glieder
nur gehorchet. Das Beiſpiel der Taub- und Stummge-
bohrnen zeigt, wie wenig der Menſch auch mitten unter
Menſchen ohne Sprache zu Jdeen der Vernunft gelange
und in welcher thieriſchen Wildheit alle ſeine Triebe bleiben.
Er ahmt nach was ſein Auge ſieht, Gutes und Boͤſes; und
er ahmt es ſchlechter als der Affe nach, weil das innere Kri-
terium der Unterſcheidung, ja ſelbſt die Sympathie mit ſei-
nem Geſchlecht ihm fehlet. Man hat Beiſpiele *), daß ein
Taub- und Stummgebohrner ſeinen Bruder mordete, da er
ein Schwein morden ſah und wuͤhlte, blos der Nachahmung
wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden deſſelben: ſchreck-
licher Beweis, wie wenig die geprieſne menſchliche Vernunft
und das Gefuͤhl unſrer Gattung durch ſich ſelbſt vermoͤge.
Man kann und muß alſo die feinen Sprachwerkzeuge als das
Steuerruder unſrer Vernunft und die Rede als den Him-
melsfunken anſehen, der unſre Sinnen und Gedanken all-
maͤlich in Flammen brachte.


Bei
*) Jn Sacks vertheidigtem Glauben der Chriſten erinnere ich mich
einen ſolchen Fall erzaͤhlt gefunden zu haben; mehrere derglei-
chen ſind mir aus andern Schriften erinnerlich.
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[220[200]/0222] durch die Rede wird Auge und Ohr, ja das Gefuͤhl aller Sinne eins und vereinigt ſich durch ſie zum ſchaffenden Ge- danken, dem das Kunſtwerk der Haͤnde und andrer Glieder nur gehorchet. Das Beiſpiel der Taub- und Stummge- bohrnen zeigt, wie wenig der Menſch auch mitten unter Menſchen ohne Sprache zu Jdeen der Vernunft gelange und in welcher thieriſchen Wildheit alle ſeine Triebe bleiben. Er ahmt nach was ſein Auge ſieht, Gutes und Boͤſes; und er ahmt es ſchlechter als der Affe nach, weil das innere Kri- terium der Unterſcheidung, ja ſelbſt die Sympathie mit ſei- nem Geſchlecht ihm fehlet. Man hat Beiſpiele *), daß ein Taub- und Stummgebohrner ſeinen Bruder mordete, da er ein Schwein morden ſah und wuͤhlte, blos der Nachahmung wegen, mit kalter Freude in den Eingeweiden deſſelben: ſchreck- licher Beweis, wie wenig die geprieſne menſchliche Vernunft und das Gefuͤhl unſrer Gattung durch ſich ſelbſt vermoͤge. Man kann und muß alſo die feinen Sprachwerkzeuge als das Steuerruder unſrer Vernunft und die Rede als den Him- melsfunken anſehen, der unſre Sinnen und Gedanken all- maͤlich in Flammen brachte. Bei *) Jn Sacks vertheidigtem Glauben der Chriſten erinnere ich mich einen ſolchen Fall erzaͤhlt gefunden zu haben; mehrere derglei- chen ſind mir aus andern Schriften erinnerlich.

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 220[200]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/222>, abgerufen am 28.11.2024.