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Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

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sie haben ein Analogon thierischer Sinne und willkührlicher
Bewegung; ihre vornehmste organische Kraft ist indessen
noch Nahrung und Fortpflanzung. Der Polyp ist kein Ma-
gazin von Keimen, die in ihm, etwa für das grausame Mes-
ser des Philosophen, präformirt lägen; sondern wie die
Pflanze selbst organisches Leben war, ist auch Er organi-
sches Leben
. Er schießt Abschößlinge, wie sie, und das
Messer des Zergliederers kann diese Kräfte nur wecken, nur
reitzen. Wie ein gereizter oder zerschnittener Muskel mehr
Kraft äussert: so äussert ein gequälter Polyp alles, was er
kann, um sich zu erstatten und zu ergänzen. Er treibt Glie-
der so lange seine Kraft es vermag und das Werkzeug der
Kunst seine Natur nur nicht ganz zerstörte. An einigen
Theilen, in einigen Richtungen, wenn die Theile zu klein,
wenn seine Kräfte zu matt werden, kann ers nicht mehr; wel-
ches alles nicht statt fände, wenn in jedem Punkt der prä-
formirte Keim bereit läge. Mächtige organische Kräfte sinds
die wir in ihm, wie im Triebwerk der Gewächse, ja noch
tiefer hinab in schwächern, dunklern Anfängen wirken sehen.

3. Die Schalenthiere sind organische Geschöpfe voll
so viel Lebens, als sich in diesem Element, in diesem Ge-
häuse nur sammlen und organisiren konnte. Wir müssen es
Gefühl nennen, weil wir kein andres Wort haben; es ist

aber

ſie haben ein Analogon thieriſcher Sinne und willkuͤhrlicher
Bewegung; ihre vornehmſte organiſche Kraft iſt indeſſen
noch Nahrung und Fortpflanzung. Der Polyp iſt kein Ma-
gazin von Keimen, die in ihm, etwa fuͤr das grauſame Meſ-
ſer des Philoſophen, praͤformirt laͤgen; ſondern wie die
Pflanze ſelbſt organiſches Leben war, iſt auch Er organi-
ſches Leben
. Er ſchießt Abſchoͤßlinge, wie ſie, und das
Meſſer des Zergliederers kann dieſe Kraͤfte nur wecken, nur
reitzen. Wie ein gereizter oder zerſchnittener Muskel mehr
Kraft aͤuſſert: ſo aͤuſſert ein gequaͤlter Polyp alles, was er
kann, um ſich zu erſtatten und zu ergaͤnzen. Er treibt Glie-
der ſo lange ſeine Kraft es vermag und das Werkzeug der
Kunſt ſeine Natur nur nicht ganz zerſtoͤrte. An einigen
Theilen, in einigen Richtungen, wenn die Theile zu klein,
wenn ſeine Kraͤfte zu matt werden, kann ers nicht mehr; wel-
ches alles nicht ſtatt faͤnde, wenn in jedem Punkt der praͤ-
formirte Keim bereit laͤge. Maͤchtige organiſche Kraͤfte ſinds
die wir in ihm, wie im Triebwerk der Gewaͤchſe, ja noch
tiefer hinab in ſchwaͤchern, dunklern Anfaͤngen wirken ſehen.

3. Die Schalenthiere ſind organiſche Geſchoͤpfe voll
ſo viel Lebens, als ſich in dieſem Element, in dieſem Ge-
haͤuſe nur ſammlen und organiſiren konnte. Wir muͤſſen es
Gefuͤhl nennen, weil wir kein andres Wort haben; es iſt

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[119/0141] ſie haben ein Analogon thieriſcher Sinne und willkuͤhrlicher Bewegung; ihre vornehmſte organiſche Kraft iſt indeſſen noch Nahrung und Fortpflanzung. Der Polyp iſt kein Ma- gazin von Keimen, die in ihm, etwa fuͤr das grauſame Meſ- ſer des Philoſophen, praͤformirt laͤgen; ſondern wie die Pflanze ſelbſt organiſches Leben war, iſt auch Er organi- ſches Leben. Er ſchießt Abſchoͤßlinge, wie ſie, und das Meſſer des Zergliederers kann dieſe Kraͤfte nur wecken, nur reitzen. Wie ein gereizter oder zerſchnittener Muskel mehr Kraft aͤuſſert: ſo aͤuſſert ein gequaͤlter Polyp alles, was er kann, um ſich zu erſtatten und zu ergaͤnzen. Er treibt Glie- der ſo lange ſeine Kraft es vermag und das Werkzeug der Kunſt ſeine Natur nur nicht ganz zerſtoͤrte. An einigen Theilen, in einigen Richtungen, wenn die Theile zu klein, wenn ſeine Kraͤfte zu matt werden, kann ers nicht mehr; wel- ches alles nicht ſtatt faͤnde, wenn in jedem Punkt der praͤ- formirte Keim bereit laͤge. Maͤchtige organiſche Kraͤfte ſinds die wir in ihm, wie im Triebwerk der Gewaͤchſe, ja noch tiefer hinab in ſchwaͤchern, dunklern Anfaͤngen wirken ſehen. 3. Die Schalenthiere ſind organiſche Geſchoͤpfe voll ſo viel Lebens, als ſich in dieſem Element, in dieſem Ge- haͤuſe nur ſammlen und organiſiren konnte. Wir muͤſſen es Gefuͤhl nennen, weil wir kein andres Wort haben; es iſt aber

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/141>, abgerufen am 24.11.2024.