Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784.

Bild:
<< vorherige Seite

5. Die Schöpfung ist unendlich größer, in der Mil-
lionen Geschöpfe, jedes von besonderm Sinn und Triebe
eine eigne Welt genießet, ein eignes Werk treibet; als eine
andre Wüste, die der unachtsame Mensch allein mit seinen
fünf stumpfen Sinnen betasten soll.

6. Wer einiges Gefühl für die Hoheit und Macht
der Sinn- und Kunst- und Lebenreichen Natur hat, wird
dankbar annehmen, was seine Organisation in sich schließt;
ihr aber deswegen den Geist aller ihrer übrigen Werke nicht
ins Gesicht läugnen. Die ganze Schöpfung sollte durchge-
nossen, durchgefühlt, durcharbeitet werden; auf jedem neuen
Punkt also mußten Geschöpfe seyn, sie zu geniessen, Organe
sie zu empfinden, Kräfte, sie dieser Stelle gemäß zu beleben.
Der Kaiman und der Kolibri, der Kondor und die Pipa;
was haben sie mit einander gemein? und jedes ist für sein
Element organisirt, jedes lebt und webt in seinem Elemente.
Kein Punkt der Schöpfung ist ohne Genuß, ohne Organ,
ohne Bewohner: jedes Geschöpf hat also seine eigne,
eine neue Welt.

Unendlichkeit umfaßt mich, wenn ich, umringt von tau-
send Proben dieser Art und ergriffen von ihren Gefühlen, Na-
tur, in deinen heiligen Tempel trete. Kein Geschöpf bist du vor-

bei-

5. Die Schoͤpfung iſt unendlich groͤßer, in der Mil-
lionen Geſchoͤpfe, jedes von beſonderm Sinn und Triebe
eine eigne Welt genießet, ein eignes Werk treibet; als eine
andre Wuͤſte, die der unachtſame Menſch allein mit ſeinen
fuͤnf ſtumpfen Sinnen betaſten ſoll.

6. Wer einiges Gefuͤhl fuͤr die Hoheit und Macht
der Sinn- und Kunſt- und Lebenreichen Natur hat, wird
dankbar annehmen, was ſeine Organiſation in ſich ſchließt;
ihr aber deswegen den Geiſt aller ihrer uͤbrigen Werke nicht
ins Geſicht laͤugnen. Die ganze Schoͤpfung ſollte durchge-
noſſen, durchgefuͤhlt, durcharbeitet werden; auf jedem neuen
Punkt alſo mußten Geſchoͤpfe ſeyn, ſie zu genieſſen, Organe
ſie zu empfinden, Kraͤfte, ſie dieſer Stelle gemaͤß zu beleben.
Der Kaiman und der Kolibri, der Kondor und die Pipa;
was haben ſie mit einander gemein? und jedes iſt fuͤr ſein
Element organiſirt, jedes lebt und webt in ſeinem Elemente.
Kein Punkt der Schoͤpfung iſt ohne Genuß, ohne Organ,
ohne Bewohner: jedes Geſchoͤpf hat alſo ſeine eigne,
eine neue Welt.

Unendlichkeit umfaßt mich, wenn ich, umringt von tau-
ſend Proben dieſer Art und ergriffen von ihren Gefuͤhlen, Na-
tur, in deinen heiligen Tempel trete. Kein Geſchoͤpf biſt du vor-

bei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0138" n="116"/>
          <p>5. Die Scho&#x0364;pfung i&#x017F;t unendlich gro&#x0364;ßer, in der Mil-<lb/>
lionen Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe, jedes von be&#x017F;onderm Sinn und Triebe<lb/>
eine eigne Welt genießet, ein eignes Werk treibet; als eine<lb/>
andre Wu&#x0364;&#x017F;te, die der unacht&#x017F;ame Men&#x017F;ch allein mit &#x017F;einen<lb/>
fu&#x0364;nf &#x017F;tumpfen Sinnen beta&#x017F;ten &#x017F;oll.</p><lb/>
          <p>6. Wer einiges Gefu&#x0364;hl fu&#x0364;r die Hoheit und Macht<lb/>
der Sinn- und Kun&#x017F;t- und Lebenreichen Natur hat, wird<lb/>
dankbar annehmen, was &#x017F;eine Organi&#x017F;ation in &#x017F;ich &#x017F;chließt;<lb/>
ihr aber deswegen den Gei&#x017F;t aller ihrer u&#x0364;brigen Werke nicht<lb/>
ins Ge&#x017F;icht la&#x0364;ugnen. Die ganze Scho&#x0364;pfung &#x017F;ollte durchge-<lb/>
no&#x017F;&#x017F;en, durchgefu&#x0364;hlt, durcharbeitet werden; auf jedem neuen<lb/>
Punkt al&#x017F;o mußten Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe &#x017F;eyn, &#x017F;ie zu genie&#x017F;&#x017F;en, Organe<lb/>
&#x017F;ie zu empfinden, Kra&#x0364;fte, &#x017F;ie die&#x017F;er Stelle gema&#x0364;ß zu beleben.<lb/>
Der Kaiman und der Kolibri, der Kondor und die Pipa;<lb/>
was haben &#x017F;ie mit einander gemein? und jedes i&#x017F;t fu&#x0364;r &#x017F;ein<lb/>
Element organi&#x017F;irt, jedes lebt und webt in &#x017F;einem Elemente.<lb/>
Kein Punkt der Scho&#x0364;pfung i&#x017F;t ohne Genuß, ohne Organ,<lb/>
ohne Bewohner: <hi rendition="#fr">jedes Ge&#x017F;cho&#x0364;pf hat al&#x017F;o &#x017F;eine eigne,<lb/>
eine neue Welt.</hi></p><lb/>
          <p>Unendlichkeit umfaßt mich, wenn ich, umringt von tau-<lb/>
&#x017F;end Proben die&#x017F;er Art und ergriffen von ihren Gefu&#x0364;hlen, Na-<lb/>
tur, in deinen heiligen Tempel trete. Kein Ge&#x017F;cho&#x0364;pf bi&#x017F;t du vor-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">bei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[116/0138] 5. Die Schoͤpfung iſt unendlich groͤßer, in der Mil- lionen Geſchoͤpfe, jedes von beſonderm Sinn und Triebe eine eigne Welt genießet, ein eignes Werk treibet; als eine andre Wuͤſte, die der unachtſame Menſch allein mit ſeinen fuͤnf ſtumpfen Sinnen betaſten ſoll. 6. Wer einiges Gefuͤhl fuͤr die Hoheit und Macht der Sinn- und Kunſt- und Lebenreichen Natur hat, wird dankbar annehmen, was ſeine Organiſation in ſich ſchließt; ihr aber deswegen den Geiſt aller ihrer uͤbrigen Werke nicht ins Geſicht laͤugnen. Die ganze Schoͤpfung ſollte durchge- noſſen, durchgefuͤhlt, durcharbeitet werden; auf jedem neuen Punkt alſo mußten Geſchoͤpfe ſeyn, ſie zu genieſſen, Organe ſie zu empfinden, Kraͤfte, ſie dieſer Stelle gemaͤß zu beleben. Der Kaiman und der Kolibri, der Kondor und die Pipa; was haben ſie mit einander gemein? und jedes iſt fuͤr ſein Element organiſirt, jedes lebt und webt in ſeinem Elemente. Kein Punkt der Schoͤpfung iſt ohne Genuß, ohne Organ, ohne Bewohner: jedes Geſchoͤpf hat alſo ſeine eigne, eine neue Welt. Unendlichkeit umfaßt mich, wenn ich, umringt von tau- ſend Proben dieſer Art und ergriffen von ihren Gefuͤhlen, Na- tur, in deinen heiligen Tempel trete. Kein Geſchoͤpf biſt du vor- bei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/138
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/138>, abgerufen am 22.11.2024.