wahre Sprachorgane mit den Werkzeugen des Geschmacks und der Speise, also das Edelste mit den Zeichen der nie- drigsten Nothdurft zusammen geordnet. Womit er Speise für den niedrigen Leib verarbeitet, verarbeitet er auch in Wor- ten die Nahrung der Gedanken.
Der zweite Beruf der Geschöpfe ist Fortpflanzung: die Bestimmung dazu ist schon im Bau der Pflanzen sicht- bar. Wem dienen Wurzel und Stamm, Aeste und Blät- ter? wem hat die Natur den obersten, oder doch den ausge- suchtesten Platz eingeräumet? der Blüte, der Krone; und wir sahen, sie sind die Zeugungstheile der Pflanze. Sie also sind zum schönsten Haupttheil dieses Geschöpfs gemacht: auf ihre Ausbildung ist das Leben, das Geschäft, das Vergnü- gen der Pflanze, ja selbst die einzige scheinbar-willkührliche Bewegung derselben berechnet: es ist diese nämlich der soge- nannte Schlaf der Pflanzen. Gewächse, deren Samen- behältnisse hinlänglich gesichert sind, schlafen nicht: eine Pflanze nach der Befruchtung schläft auch nicht mehr. Sie schloß sich also nur mütterlich zu, die innern Theile der Blume gegen die rauhe Witterung zu bewahren; und so ist alles bei ihr, wie auf Nahrung und Wachsthum, so auch auf Fortpflanzung und Befruchtung gerechnet: eines andern Zwecks der Thätigkeit war sie nicht fähig.
Nicht
wahre Sprachorgane mit den Werkzeugen des Geſchmacks und der Speiſe, alſo das Edelſte mit den Zeichen der nie- drigſten Nothdurft zuſammen geordnet. Womit er Speiſe fuͤr den niedrigen Leib verarbeitet, verarbeitet er auch in Wor- ten die Nahrung der Gedanken.
Der zweite Beruf der Geſchoͤpfe iſt Fortpflanzung: die Beſtimmung dazu iſt ſchon im Bau der Pflanzen ſicht- bar. Wem dienen Wurzel und Stamm, Aeſte und Blaͤt- ter? wem hat die Natur den oberſten, oder doch den ausge- ſuchteſten Platz eingeraͤumet? der Bluͤte, der Krone; und wir ſahen, ſie ſind die Zeugungstheile der Pflanze. Sie alſo ſind zum ſchoͤnſten Haupttheil dieſes Geſchoͤpfs gemacht: auf ihre Ausbildung iſt das Leben, das Geſchaͤft, das Vergnuͤ- gen der Pflanze, ja ſelbſt die einzige ſcheinbar-willkuͤhrliche Bewegung derſelben berechnet: es iſt dieſe naͤmlich der ſoge- nannte Schlaf der Pflanzen. Gewaͤchſe, deren Samen- behaͤltniſſe hinlaͤnglich geſichert ſind, ſchlafen nicht: eine Pflanze nach der Befruchtung ſchlaͤft auch nicht mehr. Sie ſchloß ſich alſo nur muͤtterlich zu, die innern Theile der Blume gegen die rauhe Witterung zu bewahren; und ſo iſt alles bei ihr, wie auf Nahrung und Wachsthum, ſo auch auf Fortpflanzung und Befruchtung gerechnet: eines andern Zwecks der Thaͤtigkeit war ſie nicht faͤhig.
Nicht
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0122"n="100"/>
wahre Sprachorgane mit den Werkzeugen des Geſchmacks<lb/>
und der Speiſe, alſo das Edelſte mit den Zeichen der nie-<lb/>
drigſten Nothdurft zuſammen geordnet. Womit er Speiſe<lb/>
fuͤr den niedrigen Leib verarbeitet, verarbeitet er auch in Wor-<lb/>
ten die Nahrung der Gedanken.</p><lb/><p>Der zweite Beruf der Geſchoͤpfe iſt <hirendition="#fr">Fortpflanzung</hi>:<lb/>
die Beſtimmung dazu iſt ſchon im Bau der Pflanzen ſicht-<lb/>
bar. Wem dienen Wurzel und Stamm, Aeſte und Blaͤt-<lb/>
ter? wem hat die Natur den oberſten, oder doch den ausge-<lb/>ſuchteſten Platz eingeraͤumet? der <hirendition="#fr">Bluͤte</hi>, der <hirendition="#fr">Krone</hi>; und<lb/>
wir ſahen, ſie ſind die Zeugungstheile der Pflanze. Sie alſo<lb/>ſind zum ſchoͤnſten Haupttheil dieſes Geſchoͤpfs gemacht: auf<lb/>
ihre Ausbildung iſt das Leben, das Geſchaͤft, das Vergnuͤ-<lb/>
gen der Pflanze, ja ſelbſt die einzige ſcheinbar-willkuͤhrliche<lb/>
Bewegung derſelben berechnet: es iſt dieſe naͤmlich der ſoge-<lb/>
nannte <hirendition="#fr">Schlaf der Pflanzen.</hi> Gewaͤchſe, deren Samen-<lb/>
behaͤltniſſe hinlaͤnglich geſichert ſind, ſchlafen nicht: eine<lb/>
Pflanze nach der Befruchtung ſchlaͤft auch nicht mehr. Sie<lb/>ſchloß ſich alſo nur <hirendition="#fr">muͤtterlich</hi> zu, die innern Theile der<lb/>
Blume gegen die rauhe Witterung zu bewahren; und ſo iſt<lb/>
alles bei ihr, wie auf Nahrung und Wachsthum, ſo auch<lb/>
auf Fortpflanzung und Befruchtung gerechnet: eines andern<lb/>
Zwecks der Thaͤtigkeit war ſie nicht faͤhig.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">Nicht</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[100/0122]
wahre Sprachorgane mit den Werkzeugen des Geſchmacks
und der Speiſe, alſo das Edelſte mit den Zeichen der nie-
drigſten Nothdurft zuſammen geordnet. Womit er Speiſe
fuͤr den niedrigen Leib verarbeitet, verarbeitet er auch in Wor-
ten die Nahrung der Gedanken.
Der zweite Beruf der Geſchoͤpfe iſt Fortpflanzung:
die Beſtimmung dazu iſt ſchon im Bau der Pflanzen ſicht-
bar. Wem dienen Wurzel und Stamm, Aeſte und Blaͤt-
ter? wem hat die Natur den oberſten, oder doch den ausge-
ſuchteſten Platz eingeraͤumet? der Bluͤte, der Krone; und
wir ſahen, ſie ſind die Zeugungstheile der Pflanze. Sie alſo
ſind zum ſchoͤnſten Haupttheil dieſes Geſchoͤpfs gemacht: auf
ihre Ausbildung iſt das Leben, das Geſchaͤft, das Vergnuͤ-
gen der Pflanze, ja ſelbſt die einzige ſcheinbar-willkuͤhrliche
Bewegung derſelben berechnet: es iſt dieſe naͤmlich der ſoge-
nannte Schlaf der Pflanzen. Gewaͤchſe, deren Samen-
behaͤltniſſe hinlaͤnglich geſichert ſind, ſchlafen nicht: eine
Pflanze nach der Befruchtung ſchlaͤft auch nicht mehr. Sie
ſchloß ſich alſo nur muͤtterlich zu, die innern Theile der
Blume gegen die rauhe Witterung zu bewahren; und ſo iſt
alles bei ihr, wie auf Nahrung und Wachsthum, ſo auch
auf Fortpflanzung und Befruchtung gerechnet: eines andern
Zwecks der Thaͤtigkeit war ſie nicht faͤhig.
Nicht
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Bd. 1. Riga u. a., 1784, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_geschichte01_1784/122>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.