lehrt, rührt und bildet Shakespear nordische Menschen! Mir ist, wenn ich ihn lese, Theater, Akteur, Koulisse verschwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten we- hende Blätter aus dem Buch der Begeben- heiten, der Vorsehung der Welt! -- ein- zelne Gepräge der Völker, Stände, Seelen! die alle die verschiedenartigsten und abgetrenn- test handelnden Maschinen, alle -- was wir in der Hand des Weltschöpfers sind -- un- wissende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines theatralischen Bildes, Einer Grösse habenden Begebenheit, die nur der Dichter überschauet. Wer kann sich einen grössern Dichter der nordischen Menschheit und in dem Zeitalter! denken!
Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauschen, so tritt vor seine Bühne. Die Auftritte der Natur rük- ken vor und ab; würken in einander so di- sparat sie scheinen; bringen sich hervor, und zerstöhren sich, damit die Absicht des Schö- pfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung gesellet zu haben schien, erfüllt werde -- dunkle kleine Symbole zum Son- nenriß einer Theodicee Gottes. Lear der rasche, warme, edelschwache Greis, wie er da vor seiner Landcharte steht, und Kronen wegschenkt und Länder zerreißt, -- in der
Ersten
lehrt, ruͤhrt und bildet Shakeſpear nordiſche Menſchen! Mir iſt, wenn ich ihn leſe, Theater, Akteur, Kouliſſe verſchwunden! Lauter einzelne im Sturm der Zeiten we- hende Blaͤtter aus dem Buch der Begeben- heiten, der Vorſehung der Welt! — ein- zelne Gepraͤge der Voͤlker, Staͤnde, Seelen! die alle die verſchiedenartigſten und abgetrenn- teſt handelnden Maſchinen, alle — was wir in der Hand des Weltſchoͤpfers ſind — un- wiſſende, blinde Werkzeuge zum Ganzen Eines theatraliſchen Bildes, Einer Groͤſſe habenden Begebenheit, die nur der Dichter uͤberſchauet. Wer kann ſich einen groͤſſern Dichter der nordiſchen Menſchheit und in dem Zeitalter! denken!
Wie vor einem Meere von Begebenheit, wo Wogen in Wogen rauſchen, ſo tritt vor ſeine Buͤhne. Die Auftritte der Natur ruͤk- ken vor und ab; wuͤrken in einander ſo di- ſparat ſie ſcheinen; bringen ſich hervor, und zerſtoͤhren ſich, damit die Abſicht des Schoͤ- pfers, der alle im Plane der Trunkenheit und Unordnung geſellet zu haben ſchien, erfuͤllt werde — dunkle kleine Symbole zum Son- nenriß einer Theodicee Gottes. Lear der raſche, warme, edelſchwache Greis, wie er da vor ſeiner Landcharte ſteht, und Kronen wegſchenkt und Laͤnder zerreißt, — in der
Erſten
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lehrt, ruͤhrt und bildet Shakeſpear nordiſche
Menſchen! Mir iſt, wenn ich ihn leſe,
Theater, Akteur, Kouliſſe verſchwunden!
Lauter einzelne im Sturm der Zeiten we-
hende Blaͤtter aus dem Buch der Begeben-
heiten, der Vorſehung der Welt! — ein-
zelne Gepraͤge der Voͤlker, Staͤnde, Seelen!
die alle die verſchiedenartigſten und abgetrenn-
teſt handelnden Maſchinen, alle — was wir
in der Hand des Weltſchoͤpfers ſind — un-
wiſſende, blinde Werkzeuge zum Ganzen
Eines theatraliſchen Bildes, Einer Groͤſſe
habenden Begebenheit, die nur der Dichter
uͤberſchauet. Wer kann ſich einen groͤſſern
Dichter der nordiſchen Menſchheit und in
dem Zeitalter! denken!
Wie vor einem Meere von Begebenheit,
wo Wogen in Wogen rauſchen, ſo tritt vor
ſeine Buͤhne. Die Auftritte der Natur ruͤk-
ken vor und ab; wuͤrken in einander ſo di-
ſparat ſie ſcheinen; bringen ſich hervor, und
zerſtoͤhren ſich, damit die Abſicht des Schoͤ-
pfers, der alle im Plane der Trunkenheit und
Unordnung geſellet zu haben ſchien, erfuͤllt
werde — dunkle kleine Symbole zum Son-
nenriß einer Theodicee Gottes. Lear der
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da vor ſeiner Landcharte ſteht, und Kronen
wegſchenkt und Laͤnder zerreißt, — in der
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 93. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/97>, abgerufen am 27.07.2024.
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