son noch nicht gedichtet haben! Würdest dich freuen, von Jedem Deiner Stücke, Hand- lung, Charakter, Meinungen, Aus- druck, Bühne, wie aus zwey Punkten des Dreyecks Linien ziehen zu können, die sich oben in Einem Punkte des Zwecks, der Vollkommenheit begegnen! Würdest zu Sophokles sagen: mahle das heilige Blatt dieses Altars! und du o nordischer Barde alle Seiten und Wände dieses Tempels in dein unsterbliches Fresko!
Man lasse mich als Ausleger und Rhap- sodisten fortfahren: denn ich bin Shakespear näher als dem Griechen. Wenn bey diesem das Eine einer Handlung herrscht: so ar- beitet Jener auf das Ganze eines Eräugnis- ses einer Begebenheit. Wenn bey |Je- nem Ein Ton der Charaktere herrschet, so bey diesem alle Charaktere, Stände und Le- bensarten, so viel nur fähig und nöthig sind, den Hauptklang seines Concerts zu bilden. Wenn in Jenem Eine singende feine Spra- che, wie in einem höhern Aether thönet, so spricht dieser die Sprache aller Alter, Men- schen und Menscharten, ist Dollmetscher der Natur in all' ihren Zungen -- und auf so verschiedenen Wegen beyde Vertraute Einer Gottheit? -- Und wenn jener Griechen vorstellt und lehrt und rührt und bildet, so
lehrt,
ſon noch nicht gedichtet haben! Wuͤrdeſt dich freuen, von Jedem Deiner Stuͤcke, Hand- lung, Charakter, Meinungen, Aus- druck, Buͤhne, wie aus zwey Punkten des Dreyecks Linien ziehen zu koͤnnen, die ſich oben in Einem Punkte des Zwecks, der Vollkommenheit begegnen! Wuͤrdeſt zu Sophokles ſagen: mahle das heilige Blatt dieſes Altars! und du o nordiſcher Barde alle Seiten und Waͤnde dieſes Tempels in dein unſterbliches Fresko!
Man laſſe mich als Ausleger und Rhap- ſodiſten fortfahren: denn ich bin Shakeſpear naͤher als dem Griechen. Wenn bey dieſem das Eine einer Handlung herrſcht: ſo ar- beitet Jener auf das Ganze eines Eraͤugniſ- ſes einer Begebenheit. Wenn bey |Je- nem Ein Ton der Charaktere herrſchet, ſo bey dieſem alle Charaktere, Staͤnde und Le- bensarten, ſo viel nur faͤhig und noͤthig ſind, den Hauptklang ſeines Concerts zu bilden. Wenn in Jenem Eine ſingende feine Spra- che, wie in einem hoͤhern Aether thoͤnet, ſo ſpricht dieſer die Sprache aller Alter, Men- ſchen und Menſcharten, iſt Dollmetſcher der Natur in all’ ihren Zungen — und auf ſo verſchiedenen Wegen beyde Vertraute Einer Gottheit? — Und wenn jener Griechen vorſtellt und lehrt und ruͤhrt und bildet, ſo
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ſon noch nicht gedichtet haben! Wuͤrdeſt dich
freuen, von Jedem Deiner Stuͤcke, Hand-
lung, Charakter, Meinungen, Aus-
druck, Buͤhne, wie aus zwey Punkten
des Dreyecks Linien ziehen zu koͤnnen, die
ſich oben in Einem Punkte des Zwecks, der
Vollkommenheit begegnen! Wuͤrdeſt zu
Sophokles ſagen: mahle das heilige Blatt
dieſes Altars! und du o nordiſcher Barde
alle Seiten und Waͤnde dieſes Tempels in
dein unſterbliches Fresko!
Man laſſe mich als Ausleger und Rhap-
ſodiſten fortfahren: denn ich bin Shakeſpear
naͤher als dem Griechen. Wenn bey dieſem
das Eine einer Handlung herrſcht: ſo ar-
beitet Jener auf das Ganze eines Eraͤugniſ-
ſes einer Begebenheit. Wenn bey |Je-
nem Ein Ton der Charaktere herrſchet, ſo
bey dieſem alle Charaktere, Staͤnde und Le-
bensarten, ſo viel nur faͤhig und noͤthig ſind,
den Hauptklang ſeines Concerts zu bilden.
Wenn in Jenem Eine ſingende feine Spra-
che, wie in einem hoͤhern Aether thoͤnet, ſo
ſpricht dieſer die Sprache aller Alter, Men-
ſchen und Menſcharten, iſt Dollmetſcher der
Natur in all’ ihren Zungen — und auf ſo
verſchiedenen Wegen beyde Vertraute Einer
Gottheit? — Und wenn jener Griechen
vorſtellt und lehrt und ruͤhrt und bildet, ſo
lehrt,
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/96>, abgerufen am 27.07.2024.
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