Erste, ganz Verschiedne zeigt die Urkraft seines Berufs.
Shakespear fand keinen Chor vor sich; aber wohl Staats und Marionettenspiele -- wohl! er bildete also aus diesen Staats- und Marionettenspielen, dem so schlechten Leim! das herrliche Geschöpf, das da vor uns steht und lebt! Er fand keinen so einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, sondern ein Viel- faches von Ständen, Lebensarten, Gesin- nungen, Völkern und Spracharten -- der Gram um das Vorige wäre vergebens ge- wesen; er dichtete also Stände und Men- schen, Völker und Spracharten, König und Narren, Narren und König zu dem herrli- chen Ganzen! Er fand keinen so einfachen Geist der Geschichte, der Fabel, der Hand- lung: er nahm Geschichte, wie er sie fand, und setzte mit Schöpfergeist das Verschieden- artigste Zeug zu einem Wunderganzen zusam- men, was wir, wenn nicht Handlung im griechischen Verstande, so Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (evenement) grosses Eräugniß nennen wollen -- o Aristoteles, wenn du erschienest, wie würdest du den neuen Sophokles homerisiren! würdest so eine eigne Theorie über ihn dichten, die jetzt seine Lands- leute, Home und Hurd, Pope und John-
son
Erſte, ganz Verſchiedne zeigt die Urkraft ſeines Berufs.
Shakeſpear fand keinen Chor vor ſich; aber wohl Staats und Marionettenſpiele — wohl! er bildete alſo aus dieſen Staats- und Marionettenſpielen, dem ſo ſchlechten Leim! das herrliche Geſchoͤpf, das da vor uns ſteht und lebt! Er fand keinen ſo einfachen Volks- und Vaterlandscharakter, ſondern ein Viel- faches von Staͤnden, Lebensarten, Geſin- nungen, Voͤlkern und Spracharten — der Gram um das Vorige waͤre vergebens ge- weſen; er dichtete alſo Staͤnde und Men- ſchen, Voͤlker und Spracharten, Koͤnig und Narren, Narren und Koͤnig zu dem herrli- chen Ganzen! Er fand keinen ſo einfachen Geiſt der Geſchichte, der Fabel, der Hand- lung: er nahm Geſchichte, wie er ſie fand, und ſetzte mit Schoͤpfergeiſt das Verſchieden- artigſte Zeug zu einem Wunderganzen zuſam- men, was wir, wenn nicht Handlung im griechiſchen Verſtande, ſo Aktion im Sinne der mittlern, oder in der Sprache der neuern Zeiten Begebenheit (evenement) groſſes Eraͤugniß nennen wollen — o Ariſtoteles, wenn du erſchieneſt, wie wuͤrdeſt du den neuen Sophokles homeriſiren! wuͤrdeſt ſo eine eigne Theorie uͤber ihn dichten, die jetzt ſeine Lands- leute, Home und Hurd, Pope und John-
ſon
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Erſte, ganz Verſchiedne zeigt die Urkraft
ſeines Berufs.
Shakeſpear fand keinen Chor vor ſich;
aber wohl Staats und Marionettenſpiele —
wohl! er bildete alſo aus dieſen Staats- und
Marionettenſpielen, dem ſo ſchlechten Leim!
das herrliche Geſchoͤpf, das da vor uns ſteht
und lebt! Er fand keinen ſo einfachen Volks-
und Vaterlandscharakter, ſondern ein Viel-
faches von Staͤnden, Lebensarten, Geſin-
nungen, Voͤlkern und Spracharten — der
Gram um das Vorige waͤre vergebens ge-
weſen; er dichtete alſo Staͤnde und Men-
ſchen, Voͤlker und Spracharten, Koͤnig und
Narren, Narren und Koͤnig zu dem herrli-
chen Ganzen! Er fand keinen ſo einfachen
Geiſt der Geſchichte, der Fabel, der Hand-
lung: er nahm Geſchichte, wie er ſie fand,
und ſetzte mit Schoͤpfergeiſt das Verſchieden-
artigſte Zeug zu einem Wunderganzen zuſam-
men, was wir, wenn nicht Handlung im
griechiſchen Verſtande, ſo Aktion im Sinne
der mittlern, oder in der Sprache der neuern
Zeiten Begebenheit (evenement) groſſes
Eraͤugniß nennen wollen — o Ariſtoteles,
wenn du erſchieneſt, wie wuͤrdeſt du den neuen
Sophokles homeriſiren! wuͤrdeſt ſo eine eigne
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/95>, abgerufen am 28.07.2024.
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