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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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verminderte das Chormässige. Sophokles
fügte die dritte Person hinzu, erfand Bühne --
aus solchem Ursprunge, aber spät, hob sich
das griechische Trauerspiel zu seiner Grösse
empor, ward Meisterstück des menschlichen
Geistes, Gipfel der Dichtkunst, den Aristo-
teles so hoch ehret, und wir freylich nicht tief
gnug in Sophokles und Euripides be-
wundern können.

Man siehet aber zugleich, daß aus diesem
Ursprunge gewisse Dinge erklärlich werden,
die man sonst, als todte Regeln angestaunet,
erschrecklich verkennen müssen. Jene Sim-
plicität der griechischen Fabel,
jene
Nüchternheit griechischer Sitten, jenes
fort ausgehaltne Kothurnmässige des
Ausdrucks, Musik, Bühne, Einheit
des Orts
und der Zeit -- das Alles
lag ohne Kunst und Zauberey so natürlich
und wesentlich im Ursprunge griechischer Tra-
gödie, daß diese ohne Veredlung zu alle Je-
nem nicht möglich war. Alles das war
Schlaube, in der die Frucht wuchs.

Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit
zurück: Simplicität der Fabel lag würk-
lich so sehr in dem, was Handlung der
Vorzeit,
der Republik, des Vaterlan-
des,
der Religion, was Heldenhandlung
hieß, daß der Dichter eher Mühe hatte, in

dieser

verminderte das Chormaͤſſige. Sophokles
fuͤgte die dritte Perſon hinzu, erfand Buͤhne —
aus ſolchem Urſprunge, aber ſpaͤt, hob ſich
das griechiſche Trauerſpiel zu ſeiner Groͤſſe
empor, ward Meiſterſtuͤck des menſchlichen
Geiſtes, Gipfel der Dichtkunſt, den Ariſto-
teles ſo hoch ehret, und wir freylich nicht tief
gnug in Sophokles und Euripides be-
wundern koͤnnen.

Man ſiehet aber zugleich, daß aus dieſem
Urſprunge gewiſſe Dinge erklaͤrlich werden,
die man ſonſt, als todte Regeln angeſtaunet,
erſchrecklich verkennen muͤſſen. Jene Sim-
plicitaͤt der griechiſchen Fabel,
jene
Nuͤchternheit griechiſcher Sitten, jenes
fort ausgehaltne Kothurnmaͤſſige des
Ausdrucks, Muſik, Buͤhne, Einheit
des Orts
und der Zeit — das Alles
lag ohne Kunſt und Zauberey ſo natuͤrlich
und weſentlich im Urſprunge griechiſcher Tra-
goͤdie, daß dieſe ohne Veredlung zu alle Je-
nem nicht moͤglich war. Alles das war
Schlaube, in der die Frucht wuchs.

Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit
zuruͤck: Simplicitaͤt der Fabel lag wuͤrk-
lich ſo ſehr in dem, was Handlung der
Vorzeit,
der Republik, des Vaterlan-
des,
der Religion, was Heldenhandlung
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[77/0081] verminderte das Chormaͤſſige. Sophokles fuͤgte die dritte Perſon hinzu, erfand Buͤhne — aus ſolchem Urſprunge, aber ſpaͤt, hob ſich das griechiſche Trauerſpiel zu ſeiner Groͤſſe empor, ward Meiſterſtuͤck des menſchlichen Geiſtes, Gipfel der Dichtkunſt, den Ariſto- teles ſo hoch ehret, und wir freylich nicht tief gnug in Sophokles und Euripides be- wundern koͤnnen. Man ſiehet aber zugleich, daß aus dieſem Urſprunge gewiſſe Dinge erklaͤrlich werden, die man ſonſt, als todte Regeln angeſtaunet, erſchrecklich verkennen muͤſſen. Jene Sim- plicitaͤt der griechiſchen Fabel, jene Nuͤchternheit griechiſcher Sitten, jenes fort ausgehaltne Kothurnmaͤſſige des Ausdrucks, Muſik, Buͤhne, Einheit des Orts und der Zeit — das Alles lag ohne Kunſt und Zauberey ſo natuͤrlich und weſentlich im Urſprunge griechiſcher Tra- goͤdie, daß dieſe ohne Veredlung zu alle Je- nem nicht moͤglich war. Alles das war Schlaube, in der die Frucht wuchs. Tretet in die Kindheit der damaligen Zeit zuruͤck: Simplicitaͤt der Fabel lag wuͤrk- lich ſo ſehr in dem, was Handlung der Vorzeit, der Republik, des Vaterlan- des, der Religion, was Heldenhandlung hieß, daß der Dichter eher Muͤhe hatte, in dieſer

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/81>, abgerufen am 24.11.2024.