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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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"Aber das ist nun aus. Wenn ich an dich
"denke, so brauset mein Eingeweide.

"O daß ich weinen könnte, wie ihr andern:
"so könnte ich doch meinen Schmerz lindern.

"Was soll ich mir wünschen? Der Tod ist
"mir nun selbst annehmlich worden, aber wer
"soll mein Weib und meine übrigen kleinen
"Kinder versorgen?

"Jch will noch eine Zeitlang leben: aber
"meine Freude soll seyn in Enthaltung dessen,
"was den Menschen sonst so lieb ist." --

Der Grönländer befolgt die feinsten Gesetze
vom Schweben der Elegie, die auch

-- irrt, doch nicht verwirret! --

und von wem hat er sie gelernet? Sollte es
mit den Gesetzen der Ode, des Liedes nicht
eben so seyn? und wenn sie in der Natur der
Einbildung liegen, wen sind sie nöthig zu
lehren? wem unmöglich zu fassen, der nur die-
selbe Einbildung hat? -- Alle Gesänge des
A. T., Lieder, Elegien, Orakelstücke der Pro-
pheten sind voll davon, und die sollten doch
kaum poetische Uebungen seyn. --

Selbst einen allgemeinen Satz, eine abge-
zogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im
Liede, im Gesange, nichts anders als auch so
lebendig, und kühn behandeln: es weiß von
der Lehrart und dem Gange eines dogmatischen
Locus nicht, und es schläft gewiß ein, wenn es

densel-

„Aber das iſt nun aus. Wenn ich an dich
„denke, ſo brauſet mein Eingeweide.

„O daß ich weinen koͤnnte, wie ihr andern:
„ſo koͤnnte ich doch meinen Schmerz lindern.

„Was ſoll ich mir wuͤnſchen? Der Tod iſt
„mir nun ſelbſt annehmlich worden, aber wer
„ſoll mein Weib und meine uͤbrigen kleinen
„Kinder verſorgen?

„Jch will noch eine Zeitlang leben: aber
„meine Freude ſoll ſeyn in Enthaltung deſſen,
„was den Menſchen ſonſt ſo lieb iſt.„ —

Der Groͤnlaͤnder befolgt die feinſten Geſetze
vom Schweben der Elegie, die auch

— irrt, doch nicht verwirret! —

und von wem hat er ſie gelernet? Sollte es
mit den Geſetzen der Ode, des Liedes nicht
eben ſo ſeyn? und wenn ſie in der Natur der
Einbildung liegen, wen ſind ſie noͤthig zu
lehren? wem unmoͤglich zu faſſen, der nur die-
ſelbe Einbildung hat? — Alle Geſaͤnge des
A. T., Lieder, Elegien, Orakelſtuͤcke der Pro-
pheten ſind voll davon, und die ſollten doch
kaum poetiſche Uebungen ſeyn. —

Selbſt einen allgemeinen Satz, eine abge-
zogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im
Liede, im Geſange, nichts anders als auch ſo
lebendig, und kuͤhn behandeln: es weiß von
der Lehrart und dem Gange eines dogmatiſchen
Locus nicht, und es ſchlaͤft gewiß ein, wenn es

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[62/0066] „Aber das iſt nun aus. Wenn ich an dich „denke, ſo brauſet mein Eingeweide. „O daß ich weinen koͤnnte, wie ihr andern: „ſo koͤnnte ich doch meinen Schmerz lindern. „Was ſoll ich mir wuͤnſchen? Der Tod iſt „mir nun ſelbſt annehmlich worden, aber wer „ſoll mein Weib und meine uͤbrigen kleinen „Kinder verſorgen? „Jch will noch eine Zeitlang leben: aber „meine Freude ſoll ſeyn in Enthaltung deſſen, „was den Menſchen ſonſt ſo lieb iſt.„ — Der Groͤnlaͤnder befolgt die feinſten Geſetze vom Schweben der Elegie, die auch — irrt, doch nicht verwirret! — und von wem hat er ſie gelernet? Sollte es mit den Geſetzen der Ode, des Liedes nicht eben ſo ſeyn? und wenn ſie in der Natur der Einbildung liegen, wen ſind ſie noͤthig zu lehren? wem unmoͤglich zu faſſen, der nur die- ſelbe Einbildung hat? — Alle Geſaͤnge des A. T., Lieder, Elegien, Orakelſtuͤcke der Pro- pheten ſind voll davon, und die ſollten doch kaum poetiſche Uebungen ſeyn. — Selbſt einen allgemeinen Satz, eine abge- zogne Wahrheit kann ein lebendiges Volk im Liede, im Geſange, nichts anders als auch ſo lebendig, und kuͤhn behandeln: es weiß von der Lehrart und dem Gange eines dogmatiſchen Locus nicht, und es ſchlaͤft gewiß ein, wenn es denſel-

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/66>, abgerufen am 27.11.2024.