möglich. Erkennet ein Dichter, daß die See- lenkräfte, die theils sein Gegenstand und seine Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrschend sind, vorstellende, erkennende Kräfte sind: so muß er seinen Gegenstand und den Jnhalt seines Gedichts in Gedanken so überlegen, so deutlich und klar fassen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichsam alle Lettern schon in die Seele gegraben sind, und er gibt an seinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert sein Gedicht aber Ausströmung der Lei- denschaft und der Empfindung, oder ist in sei- ner Seele diese Klasse von Kräften die würk- samste, die geläufigste Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: so überläßt er sich dem Feuer der glücklichen Stunde, und schreibt und bezaubert. Jm ersten Falle haben Milton, Haller, Kleist und andre gedichtet: sie san- nen lang, ohne zu schreiben: sprachen sie aber, so wards und stand. Bey Milton wenige Verse, die er so Nächte durch gleichsam als Mosaische Arbeit in seiner Seele gebildet hatte, und frühe dann seiner Schreiberey sagte: Hal- ler, dessen Gedichten mans gnug ansieht, wie ausgedacht und zusammendrängend sie sind: Leßing ist, glaub' ich, in seinen spätern Stük- ken der Dichtkunst auch in dieser Zahl -- alle so lebendig, und in der Seele ganz vollendete ganz vollendete Stücke nehmen sich, wenn nicht
durch
moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See- lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend ſind, vorſtellende, erkennende Kraͤfte ſind: ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen, daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck. Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei- denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei- ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk- ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und bezaubert. Jm erſten Falle haben Milton, Haller, Kleiſt und andre gedichtet: ſie ſan- nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber, ſo wards und ſtand. Bey Milton wenige Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte, und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: Hal- ler, deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind: Leßing iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk- ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht
durch
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0048"n="44"/>
moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See-<lb/>
lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine<lb/>
Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend<lb/>ſind, <hirendition="#fr">vorſtellende, erkennende</hi> Kraͤfte ſind:<lb/>ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt<lb/>ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo<lb/>
deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen,<lb/>
daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die<lb/>
Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem<lb/>
Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck.<lb/>
Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei-<lb/>
denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei-<lb/>
ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk-<lb/>ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er<lb/>
nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem<lb/>
Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und<lb/>
bezaubert. Jm erſten Falle haben <hirendition="#fr">Milton,<lb/>
Haller, Kleiſt</hi> und andre gedichtet: ſie ſan-<lb/>
nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber,<lb/>ſo wards und ſtand. Bey <hirendition="#fr">Milton</hi> wenige<lb/>
Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als<lb/>
Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte,<lb/>
und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: <hirendition="#fr">Hal-<lb/>
ler,</hi> deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie<lb/>
ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind:<lb/><hirendition="#fr">Leßing</hi> iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk-<lb/>
ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle<lb/>ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete<lb/>
ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht<lb/><fwplace="bottom"type="catch">durch</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[44/0048]
moͤglich. Erkennet ein Dichter, daß die See-
lenkraͤfte, die theils ſein Gegenſtand und ſeine
Dichtungsart fodert, und die bey ihm herrſchend
ſind, vorſtellende, erkennende Kraͤfte ſind:
ſo muß er ſeinen Gegenſtand und den Jnhalt
ſeines Gedichts in Gedanken ſo uͤberlegen, ſo
deutlich und klar faſſen, wenden, und ordnen,
daß ihm gleichſam alle Lettern ſchon in die
Seele gegraben ſind, und er gibt an ſeinem
Gedichte nur den ganzen, redlichen Abdruck.
Fodert ſein Gedicht aber Ausſtroͤmung der Lei-
denſchaft und der Empfindung, oder iſt in ſei-
ner Seele dieſe Klaſſe von Kraͤften die wuͤrk-
ſamſte, die gelaͤufigſte Triebfeder, ohne die er
nicht arbeiten kann: ſo uͤberlaͤßt er ſich dem
Feuer der gluͤcklichen Stunde, und ſchreibt und
bezaubert. Jm erſten Falle haben Milton,
Haller, Kleiſt und andre gedichtet: ſie ſan-
nen lang, ohne zu ſchreiben: ſprachen ſie aber,
ſo wards und ſtand. Bey Milton wenige
Verſe, die er ſo Naͤchte durch gleichſam als
Moſaiſche Arbeit in ſeiner Seele gebildet hatte,
und fruͤhe dann ſeiner Schreiberey ſagte: Hal-
ler, deſſen Gedichten mans gnug anſieht, wie
ausgedacht und zuſammendraͤngend ſie ſind:
Leßing iſt, glaub’ ich, in ſeinen ſpaͤtern Stuͤk-
ken der Dichtkunſt auch in dieſer Zahl — alle
ſo lebendig, und in der Seele ganz vollendete
ganz vollendete Stuͤcke nehmen ſich, wenn nicht
durch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 44. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/48>, abgerufen am 16.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.