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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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ley schöne Betrachtungen angestellt. Wer
gut und sicher bauen will, muß alles bley-
recht über den wahren und vesten Grund auf-
führen: sonst werden seine Anlagen in der
That keinen Grund haben. Die Ribben,
Nerven und Knochen eines Gewölbes sind
nichts anders als Aeste von Bäumen, welche
sich in der Mitte zusammen geben. Ob sie
sich nun gleich wölben, so ruht und drückt ein
jeder doch allein auf den Stamm, woraus er
hervor gewachsen ist. Jedermann sieht frey-
lich die Wahrheit dieses Satzes ein und den-
noch weiß sich Niemand darnach zu richten.
Alle gründen die Kuppeln ohne Ursache und
wider alle gute Regeln und Beyspiele der Al-
ten in die Luft. Und das kommt insgemein
daher, daß man einen quadratischen Grund
macht und darauf doch ein rundes oder acht-
seitiges Gebäude errichten will. Es ist eben
so, als wenn man über einen runden Grund
ein quadratisches Gebäude aufführen wollte.
Die Winkel oder die Seiten müssen daher
nothwendig über den Grund herausgehn.
Die meisten Kuppeln u. s. w. Man sieht
also, daß die gothische Baukunst weder für
die wahre noch für die scheinbare Festigkeit
hinreichend gesorgt hat, sonst hätte sie das
Volle über dem Vollen und das Leere unter
dem Leeren anbringen müssen.

Eben

ley ſchoͤne Betrachtungen angeſtellt. Wer
gut und ſicher bauen will, muß alles bley-
recht uͤber den wahren und veſten Grund auf-
fuͤhren: ſonſt werden ſeine Anlagen in der
That keinen Grund haben. Die Ribben,
Nerven und Knochen eines Gewoͤlbes ſind
nichts anders als Aeſte von Baͤumen, welche
ſich in der Mitte zuſammen geben. Ob ſie
ſich nun gleich woͤlben, ſo ruht und druͤckt ein
jeder doch allein auf den Stamm, woraus er
hervor gewachſen iſt. Jedermann ſieht frey-
lich die Wahrheit dieſes Satzes ein und den-
noch weiß ſich Niemand darnach zu richten.
Alle gruͤnden die Kuppeln ohne Urſache und
wider alle gute Regeln und Beyſpiele der Al-
ten in die Luft. Und das kommt insgemein
daher, daß man einen quadratiſchen Grund
macht und darauf doch ein rundes oder acht-
ſeitiges Gebaͤude errichten will. Es iſt eben
ſo, als wenn man uͤber einen runden Grund
ein quadratiſches Gebaͤude auffuͤhren wollte.
Die Winkel oder die Seiten muͤſſen daher
nothwendig uͤber den Grund herausgehn.
Die meiſten Kuppeln u. ſ. w. Man ſieht
alſo, daß die gothiſche Baukunſt weder fuͤr
die wahre noch fuͤr die ſcheinbare Feſtigkeit
hinreichend geſorgt hat, ſonſt haͤtte ſie das
Volle uͤber dem Vollen und das Leere unter
dem Leeren anbringen muͤſſen.

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[157/0161] ley ſchoͤne Betrachtungen angeſtellt. Wer gut und ſicher bauen will, muß alles bley- recht uͤber den wahren und veſten Grund auf- fuͤhren: ſonſt werden ſeine Anlagen in der That keinen Grund haben. Die Ribben, Nerven und Knochen eines Gewoͤlbes ſind nichts anders als Aeſte von Baͤumen, welche ſich in der Mitte zuſammen geben. Ob ſie ſich nun gleich woͤlben, ſo ruht und druͤckt ein jeder doch allein auf den Stamm, woraus er hervor gewachſen iſt. Jedermann ſieht frey- lich die Wahrheit dieſes Satzes ein und den- noch weiß ſich Niemand darnach zu richten. Alle gruͤnden die Kuppeln ohne Urſache und wider alle gute Regeln und Beyſpiele der Al- ten in die Luft. Und das kommt insgemein daher, daß man einen quadratiſchen Grund macht und darauf doch ein rundes oder acht- ſeitiges Gebaͤude errichten will. Es iſt eben ſo, als wenn man uͤber einen runden Grund ein quadratiſches Gebaͤude auffuͤhren wollte. Die Winkel oder die Seiten muͤſſen daher nothwendig uͤber den Grund herausgehn. Die meiſten Kuppeln u. ſ. w. Man ſieht alſo, daß die gothiſche Baukunſt weder fuͤr die wahre noch fuͤr die ſcheinbare Feſtigkeit hinreichend geſorgt hat, ſonſt haͤtte ſie das Volle uͤber dem Vollen und das Leere unter dem Leeren anbringen muͤſſen. Eben

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/161>, abgerufen am 25.11.2024.