handelnder müssen auch, wenn es Lieder hat, seine Lieder seyn! Je entfernter von künstlicher, wissenschaftlicher Denkart, Sprache und Let- ternart das Volk ist: desto weniger müssen auch seine Lieder fürs Papier gemacht, und todte Lettern Verse seyn: von lyrischen, vom leben- digen und gleichsam Tanzmäßigen des Gesan- ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zusammenhange und gleichsam Noth- drange des Jnhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man- chen sogar der Buchstaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na- tionalliede gehören, und mit diesem verschwin- den -- davon, und davon allein hängt das Wesen, der Zweck, die ganze wunderthätige Kraft ab, den diese Lieder haben, die Ent- zückung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Lustgesang des Volks zu seyn! Das sind die Pfeile dieses wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedächt- nisse heftet! Je länger ein Lied dauren soll, desto stärker, desto sinnlicher müssen diese See- lenerwecker seyn, daß sie der Macht der Zeit und den Veränderungen der Jahrhunderte trotzen -- wohin wendet sich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie sie auch in Ossian überall erscheinen, ein wilde-
res
handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat, ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher, wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let- ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben- digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan- ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder, vom Zuſammenhange und gleichſam Noth- drange des Jnhalts, der Empfindungen, von Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man- chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der Melodie, und von hundert andern Sachen, die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na- tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin- den — davon, und davon allein haͤngt das Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent- zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht- niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll, deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See- lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde-
res
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0016"n="12"/>
handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat,<lb/>ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher,<lb/>
wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let-<lb/>
ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch<lb/>ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte<lb/>
Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben-<lb/>
digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan-<lb/>
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,<lb/>
vom Zuſammenhange und gleichſam Noth-<lb/>
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von<lb/>
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-<lb/>
chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der<lb/>
Melodie, und von hundert andern Sachen,<lb/>
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-<lb/>
tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin-<lb/>
den — davon, und davon allein haͤngt das<lb/>
Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige<lb/>
Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent-<lb/>
zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und<lb/>
Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die<lb/>
Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen<lb/>
durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht-<lb/>
niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll,<lb/>
deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See-<lb/>
lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit<lb/>
und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte<lb/>
trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache?</p><lb/><p>Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie<lb/>ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">res</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[12/0016]
handelnder muͤſſen auch, wenn es Lieder hat,
ſeine Lieder ſeyn! Je entfernter von kuͤnſtlicher,
wiſſenſchaftlicher Denkart, Sprache und Let-
ternart das Volk iſt: deſto weniger muͤſſen auch
ſeine Lieder fuͤrs Papier gemacht, und todte
Lettern Verſe ſeyn: von lyriſchen, vom leben-
digen und gleichſam Tanzmaͤßigen des Geſan-
ges, von lebendiger Gegenwart der Bilder,
vom Zuſammenhange und gleichſam Noth-
drange des Jnhalts, der Empfindungen, von
Symmetrie der Worte, der Sylben, bey man-
chen ſogar der Buchſtaben, vom Gange der
Melodie, und von hundert andern Sachen,
die zur lebendigen Welt, zum Spruch- und Na-
tionalliede gehoͤren, und mit dieſem verſchwin-
den — davon, und davon allein haͤngt das
Weſen, der Zweck, die ganze wunderthaͤtige
Kraft ab, den dieſe Lieder haben, die Ent-
zuͤckung, die Triebfeder, der ewige Erb- und
Luſtgeſang des Volks zu ſeyn! Das ſind die
Pfeile dieſes wilden Apollo, womit er Herzen
durchbohrt, und woran er Seelen und Gedaͤcht-
niſſe heftet! Je laͤnger ein Lied dauren ſoll,
deſto ſtaͤrker, deſto ſinnlicher muͤſſen dieſe See-
lenerwecker ſeyn, daß ſie der Macht der Zeit
und den Veraͤnderungen der Jahrhunderte
trotzen — wohin wendet ſich nun die Sache?
Ohne Zweifel waren die Skandinavier, wie
ſie auch in Oſſian uͤberall erſcheinen, ein wilde-
res
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/16>, abgerufen am 16.02.2025.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften
(Kontakt).
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2025. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.