hundert an, sich aller der Freyheiten der Go- then und Saracenen zu bedienen. Sie ver- banden mit den kleinen wunderlichen Verzie- rungen, den hohen Gewölben, den widersin- nigen Säulenköpfen, die spitzigen Bögen, ohne dabey jedoch von der Krümmung der Kraislinie gänzlich abzugehn, denn sie ver- zeichneten diese Bögen nach den Durchschnitts- punkten zwoer Kraislinien, die die Mitte der Säulenspitze insgemein zum Mittelpunkte und die Säulenweite zum Halbmesser hatten. Und auf diese Weise führten sie die Bauart ein, welche man die gothische genannt hat. Die grosse Kirche zu Strasburg, die zu Rheims, die Peterskirche zu Yorck, die Ab- tey zu Westmünster, die Stephanskirche zu Wien u. d. sind so, wie die Kirche zu Clair- vaux, die Johannskirche zu Monza, die Cer- tosa zu Pavia, der grosse Dom zu Mayland, welchen der Herzog Johann Galeazo Visconti gegen das Jahr 1386. anfangen lassen, kurz nachdem die Kirche zu Monza geendigt, und nicht lange vorher, als die Certosa zu Pavia angefangen worden war -- alle die sind in diesem gothischen Geschmacke aufgeführt. Caesar Caesarini, welcher den Vitruv in das Jtalienische übersetzt, und 1521. mit einem Kommentar zu Komo herausgegeben hat, sagt in den Anmerkungen zum zweyten Ab-
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hundert an, ſich aller der Freyheiten der Go- then und Saracenen zu bedienen. Sie ver- banden mit den kleinen wunderlichen Verzie- rungen, den hohen Gewoͤlben, den widerſin- nigen Saͤulenkoͤpfen, die ſpitzigen Boͤgen, ohne dabey jedoch von der Kruͤmmung der Kraislinie gaͤnzlich abzugehn, denn ſie ver- zeichneten dieſe Boͤgen nach den Durchſchnitts- punkten zwoer Kraislinien, die die Mitte der Saͤulenſpitze insgemein zum Mittelpunkte und die Saͤulenweite zum Halbmeſſer hatten. Und auf dieſe Weiſe fuͤhrten ſie die Bauart ein, welche man die gothiſche genannt hat. Die groſſe Kirche zu Strasburg, die zu Rheims, die Peterskirche zu Yorck, die Ab- tey zu Weſtmuͤnſter, die Stephanskirche zu Wien u. d. ſind ſo, wie die Kirche zu Clair- vaux, die Johannskirche zu Monza, die Cer- toſa zu Pavia, der groſſe Dom zu Mayland, welchen der Herzog Johann Galeazo Visconti gegen das Jahr 1386. anfangen laſſen, kurz nachdem die Kirche zu Monza geendigt, und nicht lange vorher, als die Certoſa zu Pavia angefangen worden war — alle die ſind in dieſem gothiſchen Geſchmacke aufgefuͤhrt. Caeſar Caeſarini, welcher den Vitruv in das Jtalieniſche uͤberſetzt, und 1521. mit einem Kommentar zu Komo herausgegeben hat, ſagt in den Anmerkungen zum zweyten Ab-
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hundert an, ſich aller der Freyheiten der Go-
then und Saracenen zu bedienen. Sie ver-
banden mit den kleinen wunderlichen Verzie-
rungen, den hohen Gewoͤlben, den widerſin-
nigen Saͤulenkoͤpfen, die ſpitzigen Boͤgen,
ohne dabey jedoch von der Kruͤmmung der
Kraislinie gaͤnzlich abzugehn, denn ſie ver-
zeichneten dieſe Boͤgen nach den Durchſchnitts-
punkten zwoer Kraislinien, die die Mitte der
Saͤulenſpitze insgemein zum Mittelpunkte
und die Saͤulenweite zum Halbmeſſer hatten.
Und auf dieſe Weiſe fuͤhrten ſie die Bauart
ein, welche man die gothiſche genannt hat.
Die groſſe Kirche zu Strasburg, die zu
Rheims, die Peterskirche zu Yorck, die Ab-
tey zu Weſtmuͤnſter, die Stephanskirche zu
Wien u. d. ſind ſo, wie die Kirche zu Clair-
vaux, die Johannskirche zu Monza, die Cer-
toſa zu Pavia, der groſſe Dom zu Mayland,
welchen der Herzog Johann Galeazo Visconti
gegen das Jahr 1386. anfangen laſſen, kurz
nachdem die Kirche zu Monza geendigt, und
nicht lange vorher, als die Certoſa zu Pavia
angefangen worden war — alle die ſind in
dieſem gothiſchen Geſchmacke aufgefuͤhrt.
Caeſar Caeſarini, welcher den Vitruv in das
Jtalieniſche uͤberſetzt, und 1521. mit einem
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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/145>, abgerufen am 16.07.2024.
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