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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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letzt, wenn durch sie die unzähligen Theile,
zu ganzen Massen schmolzen, und nun diese,
einfach und groß, vor meiner Seele standen,
und meine Kraft sich wonnevoll entfaltete,
zugleich zu geniessen und zu erkennen. Da
offenbarte sich mir, in leisen Ahndungen, der
Genius des grossen Werkmeisters. Was
staunst du, lispelt er mir entgegen. Alle diese
Massen waren nothwendig, und siehst du sie
nicht an allen älteren Kirchen meiner Stadt.
Nur ihre willkührlichen Grössen hab ich zum
stimmenden Verhältniß erhoben. Wie über
dem Haupteingang, der zwey kleinere zu'n
Seiten beherrscht, sich der weite Kreis des
Fensters öffnet, der dem Schiffe der Kirche
antwortet, und sonst nur Tageloch war, wie,
hoch drüber der Glockenplatz die kleineren
Fenster forderte! das all war nothwendig, und
ich bildete es schön. Aber ach, wenn ich durch
die düstern erhabnen Oeffnungen hier zur Seite
schwebe, die leer und vergebens dazu stehn schei-
nen. Jn ihre kühne schlanke Gestalt hab ich die
geheimnißvollen Kräfte verborgen, die jene
beyden Thürme hoch in die Luft heben sollten,
deren, ach, nur einer traurig da steht, ohne den
fünfgethürmten Hauptschmuck, den ich ihm
bestimmte, daß ihm und seinem königlichen
Bruder die Provinzen umher huldigten. Und
so schied er von mir, und ich versank in theil-

neh-
J

letzt, wenn durch ſie die unzaͤhligen Theile,
zu ganzen Maſſen ſchmolzen, und nun dieſe,
einfach und groß, vor meiner Seele ſtanden,
und meine Kraft ſich wonnevoll entfaltete,
zugleich zu genieſſen und zu erkennen. Da
offenbarte ſich mir, in leiſen Ahndungen, der
Genius des groſſen Werkmeiſters. Was
ſtaunſt du, liſpelt er mir entgegen. Alle dieſe
Maſſen waren nothwendig, und ſiehſt du ſie
nicht an allen aͤlteren Kirchen meiner Stadt.
Nur ihre willkuͤhrlichen Groͤſſen hab ich zum
ſtimmenden Verhaͤltniß erhoben. Wie uͤber
dem Haupteingang, der zwey kleinere zu’n
Seiten beherrſcht, ſich der weite Kreis des
Fenſters oͤffnet, der dem Schiffe der Kirche
antwortet, und ſonſt nur Tageloch war, wie,
hoch druͤber der Glockenplatz die kleineren
Fenſter forderte! das all war nothwendig, und
ich bildete es ſchoͤn. Aber ach, wenn ich durch
die duͤſtern erhabnen Oeffnungen hier zur Seite
ſchwebe, die leer und vergebens dazu ſtehn ſchei-
nen. Jn ihre kuͤhne ſchlanke Geſtalt hab ich die
geheimnißvollen Kraͤfte verborgen, die jene
beyden Thuͤrme hoch in die Luft heben ſollten,
deren, ach, nur einer traurig da ſteht, ohne den
fuͤnfgethuͤrmten Hauptſchmuck, den ich ihm
beſtimmte, daß ihm und ſeinem koͤniglichen
Bruder die Provinzen umher huldigten. Und
ſo ſchied er von mir, und ich verſank in theil-

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J
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[129/0133] letzt, wenn durch ſie die unzaͤhligen Theile, zu ganzen Maſſen ſchmolzen, und nun dieſe, einfach und groß, vor meiner Seele ſtanden, und meine Kraft ſich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genieſſen und zu erkennen. Da offenbarte ſich mir, in leiſen Ahndungen, der Genius des groſſen Werkmeiſters. Was ſtaunſt du, liſpelt er mir entgegen. Alle dieſe Maſſen waren nothwendig, und ſiehſt du ſie nicht an allen aͤlteren Kirchen meiner Stadt. Nur ihre willkuͤhrlichen Groͤſſen hab ich zum ſtimmenden Verhaͤltniß erhoben. Wie uͤber dem Haupteingang, der zwey kleinere zu’n Seiten beherrſcht, ſich der weite Kreis des Fenſters oͤffnet, der dem Schiffe der Kirche antwortet, und ſonſt nur Tageloch war, wie, hoch druͤber der Glockenplatz die kleineren Fenſter forderte! das all war nothwendig, und ich bildete es ſchoͤn. Aber ach, wenn ich durch die duͤſtern erhabnen Oeffnungen hier zur Seite ſchwebe, die leer und vergebens dazu ſtehn ſchei- nen. Jn ihre kuͤhne ſchlanke Geſtalt hab ich die geheimnißvollen Kraͤfte verborgen, die jene beyden Thuͤrme hoch in die Luft heben ſollten, deren, ach, nur einer traurig da ſteht, ohne den fuͤnfgethuͤrmten Hauptſchmuck, den ich ihm beſtimmte, daß ihm und ſeinem koͤniglichen Bruder die Provinzen umher huldigten. Und ſo ſchied er von mir, und ich verſank in theil- neh- J

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 129. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/133>, abgerufen am 24.11.2024.