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Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

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Daß wir doch schon, m. Fr. eine Komposi-
tion "über den Allgegenwärtigen! die Früh-
"lingsfeyer" und dergl. hörten! oder viel-
mehr, daß diese Stücke der Musik schon Geprä-
ge wiedergegeben hätten, was sie -- ehedem
gehabt hat, und nicht mehr hat. Lassen Sie mich
um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein
Zwey Wünschen hierüber schliessen.

Unser jetzige musikalische Poesienbau --
welch ein Gothisches Gebäude! Wie fallen die
Massen aus einander? Wo Verflössung?
Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel?
bis zur Täuschung schönen Wahnsinnes? Wo
endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder
Schwestern herrsche oder diene -- ihr Pieri-
den und Kastalinnen, wo?

Unsre eigentliche Kirchenmusiken haben
noch eine erbärmlichere Gestalt. Das Erste,
das berühmteste von Allen, Ramlers Tod
Jesu,
als Werk des Genies, der Seele, des
Herzens, auch nur des Menschenverstandes,
(s. v. v.) welch ein Werk! Wer spricht? wer
singt? erzählt sich Etwas in den Recitativen --
so kalt! so scholastisch! als kaum jener Simon
von Kana würde gethan haben, da er vom Felde
kam, und vorbey zu streichen Lust hatte. Und nun
zwischen inne in Arien, in Choral, in Chören -- wer
spricht? wer singt? auf Einmal eine nützliche Lehre
aus der biblischen Geschichte gezogen, locus com-
munis
in der besten Gestalt! und dazu beynahe in
allen Personen und Dichtungen des Lebens! und

von
H 3

Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi-
tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh-
„lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel-
mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ-
ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem
gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich
um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein
Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen.

Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau —
welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die
Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung?
Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel?
bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo
endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder
Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri-
den und Kaſtalinnen, wo?

Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben
noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte,
das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod
Jeſu,
als Werk des Genies, der Seele, des
Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes,
(ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer
ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen —
ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon
von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde
kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun
zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer
ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre
aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com-
munis
in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in
allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und

von
H 3
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[117/0121] Daß wir doch ſchon, m. Fr. eine Kompoſi- tion „uͤber den Allgegenwaͤrtigen! die Fruͤh- „lingsfeyer„ und dergl. hoͤrten! oder viel- mehr, daß dieſe Stuͤcke der Muſik ſchon Gepraͤ- ge wiedergegeben haͤtten, was ſie — ehedem gehabt hat, und nicht mehr hat. Laſſen Sie mich um vom ecklen Lobe abzukommen, mit Ein Zwey Wuͤnſchen hieruͤber ſchlieſſen. Unſer jetzige muſikaliſche Poeſienbau — welch ein Gothiſches Gebaͤude! Wie fallen die Maſſen aus einander? Wo Verfloͤſſung? Uebergang? Fortleitung bis zum Taumel? bis zur Taͤuſchung ſchoͤnen Wahnſinnes? Wo endlich der feine Mittelpunkt, daß keine beyder Schweſtern herrſche oder diene — ihr Pieri- den und Kaſtalinnen, wo? Unſre eigentliche Kirchenmuſiken haben noch eine erbaͤrmlichere Geſtalt. Das Erſte, das beruͤhmteſte von Allen, Ramlers Tod Jeſu, als Werk des Genies, der Seele, des Herzens, auch nur des Menſchenverſtandes, (ſ. v. v.) welch ein Werk! Wer ſpricht? wer ſingt? erzaͤhlt ſich Etwas in den Recitativen — ſo kalt! ſo ſcholaſtiſch! als kaum jener Simon von Kana wuͤrde gethan haben, da er vom Felde kam, und vorbey zu ſtreichen Luſt hatte. Und nun zwiſchen inne in Arien, in Choral, in Choͤren — wer ſpricht? wer ſingt? auf Einmal eine nuͤtzliche Lehre aus der bibliſchen Geſchichte gezogen, locus com- munis in der beſten Geſtalt! und dazu beynahe in allen Perſonen und Dichtungen des Lebens! und von H 3

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/121>, abgerufen am 26.11.2024.