Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773.

Bild:

<< vorherige Seite

nächste Seite >>

ganz leer aus. Da ist Weltbegebenheit schon
vorbey: er sieht nur die letzte, schlechteste
Folge, Menschen, wie Fligen fallen: er geht
hin und höhnt: Shakespear ist ihm Aerger-
niß und sein Drama die dummeste Thorheit.

Ueberhaupt wäre der ganze Knäuel von
Ort- und Zeitquästionen längst aus seinem Ge-
wirre gekommen, wenn ein philosophischer
Kopf über das Drama sich die Mühe hätte
nehmen wollen, auch hier zu fragen: "was
"denn Ort und Zeit sey?" Solls das Bret-
terngerüste, und der Zeitraum eines Diver-
tissements au theatre seyn: so hat niemand
in der Welt Einheit des Orts, Maaß der
Zeit und der Scenen, als -- die Franzosen.
Die Griechen -- bey ihrer hohen Täuschung,
von der wir fast keinen Begriff haben -- bey
ihren Anstalten für das Oeffentliche der Büh-
ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der-
selben, haben an nichts weniger als das je
gedacht. Wie muß die Täuschung eines
Menschen seyn, der hinter jedem Auftritt
nach seiner Uhr sehen will, ob auch So Was
in So viel Zeit habe geschehen können? und
dem es sodann Hauptelement der Herzens-
freude würde, daß der Dichter ihn doch ja
um keinen Augenblick betrogen, sondern auf

dem

ganz leer aus. Da iſt Weltbegebenheit ſchon
vorbey: er ſieht nur die letzte, ſchlechteſte
Folge, Menſchen, wie Fligen fallen: er geht
hin und hoͤhnt: Shakeſpear iſt ihm Aerger-
niß und ſein Drama die dummeſte Thorheit.

Ueberhaupt waͤre der ganze Knaͤuel von
Ort- und Zeitquaͤſtionen laͤngſt aus ſeinem Ge-
wirre gekommen, wenn ein philoſophiſcher
Kopf uͤber das Drama ſich die Muͤhe haͤtte
nehmen wollen, auch hier zu fragen: „was
„denn Ort und Zeit ſey?„ Solls das Bret-
terngeruͤſte, und der Zeitraum eines Diver-
tiſſements au theatre ſeyn: ſo hat niemand
in der Welt Einheit des Orts, Maaß der
Zeit und der Scenen, als — die Franzoſen.
Die Griechen — bey ihrer hohen Taͤuſchung,
von der wir faſt keinen Begriff haben — bey
ihren Anſtalten fuͤr das Oeffentliche der Buͤh-
ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der-
ſelben, haben an nichts weniger als das je
gedacht. Wie muß die Taͤuſchung eines
Menſchen ſeyn, der hinter jedem Auftritt
nach ſeiner Uhr ſehen will, ob auch So Was
in So viel Zeit habe geſchehen koͤnnen? und
dem es ſodann Hauptelement der Herzens-
freude wuͤrde, daß der Dichter ihn doch ja
um keinen Augenblick betrogen, ſondern auf

dem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0108" n="104"/>
ganz leer aus. Da i&#x017F;t Weltbegebenheit &#x017F;chon<lb/>
vorbey: er &#x017F;ieht nur die letzte, &#x017F;chlechte&#x017F;te<lb/>
Folge, Men&#x017F;chen, wie Fligen fallen: er geht<lb/>
hin und ho&#x0364;hnt: <hi rendition="#fr">Shake&#x017F;pear</hi> i&#x017F;t ihm Aerger-<lb/>
niß und &#x017F;ein Drama die dumme&#x017F;te Thorheit.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Ueberhaupt wa&#x0364;re der ganze Kna&#x0364;uel von<lb/>
Ort- und Zeitqua&#x0364;&#x017F;tionen la&#x0364;ng&#x017F;t aus &#x017F;einem Ge-<lb/>
wirre gekommen, wenn ein philo&#x017F;ophi&#x017F;cher<lb/>
Kopf u&#x0364;ber das Drama &#x017F;ich die Mu&#x0364;he ha&#x0364;tte<lb/>
nehmen wollen, auch hier zu fragen: &#x201E;was<lb/>
&#x201E;denn <hi rendition="#fr">Ort</hi> und <hi rendition="#fr">Zeit</hi> &#x017F;ey?&#x201E; Solls das Bret-<lb/>
terngeru&#x0364;&#x017F;te, und der Zeitraum eines Diver-<lb/>
ti&#x017F;&#x017F;ements <hi rendition="#aq">au theatre</hi> &#x017F;eyn: &#x017F;o hat niemand<lb/>
in der Welt Einheit des Orts, Maaß der<lb/>
Zeit und der Scenen, als &#x2014; die Franzo&#x017F;en.<lb/>
Die Griechen &#x2014; bey ihrer hohen Ta&#x0364;u&#x017F;chung,<lb/>
von der wir fa&#x017F;t keinen Begriff haben &#x2014; bey<lb/>
ihren An&#x017F;talten fu&#x0364;r das Oeffentliche der Bu&#x0364;h-<lb/>
ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der-<lb/>
&#x017F;elben, haben an nichts weniger als das je<lb/>
gedacht. Wie muß die Ta&#x0364;u&#x017F;chung eines<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;eyn, der hinter jedem Auftritt<lb/>
nach &#x017F;einer Uhr &#x017F;ehen will, ob auch So Was<lb/>
in So viel Zeit habe ge&#x017F;chehen ko&#x0364;nnen? und<lb/>
dem es &#x017F;odann Hauptelement der Herzens-<lb/>
freude wu&#x0364;rde, daß der Dichter ihn doch ja<lb/>
um keinen Augenblick betrogen, &#x017F;ondern auf<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">dem</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>

[104/0108] ganz leer aus. Da iſt Weltbegebenheit ſchon vorbey: er ſieht nur die letzte, ſchlechteſte Folge, Menſchen, wie Fligen fallen: er geht hin und hoͤhnt: Shakeſpear iſt ihm Aerger- niß und ſein Drama die dummeſte Thorheit. Ueberhaupt waͤre der ganze Knaͤuel von Ort- und Zeitquaͤſtionen laͤngſt aus ſeinem Ge- wirre gekommen, wenn ein philoſophiſcher Kopf uͤber das Drama ſich die Muͤhe haͤtte nehmen wollen, auch hier zu fragen: „was „denn Ort und Zeit ſey?„ Solls das Bret- terngeruͤſte, und der Zeitraum eines Diver- tiſſements au theatre ſeyn: ſo hat niemand in der Welt Einheit des Orts, Maaß der Zeit und der Scenen, als — die Franzoſen. Die Griechen — bey ihrer hohen Taͤuſchung, von der wir faſt keinen Begriff haben — bey ihren Anſtalten fuͤr das Oeffentliche der Buͤh- ne, bey ihrer rechten Tempelandacht vor der- ſelben, haben an nichts weniger als das je gedacht. Wie muß die Taͤuſchung eines Menſchen ſeyn, der hinter jedem Auftritt nach ſeiner Uhr ſehen will, ob auch So Was in So viel Zeit habe geſchehen koͤnnen? und dem es ſodann Hauptelement der Herzens- freude wuͤrde, daß der Dichter ihn doch ja um keinen Augenblick betrogen, ſondern auf dem

Suche im Werk

Informationen zum Werk

Titeldaten
Verfügbarkeit Text (TEI-XML-, HTML-, TCF-, E-Book-Fassung): CC BY-SA 4.0.
Nutzungsbedingungen

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ^?

Language Resource Switchboard^?

Resource/URL übermitteln

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.

Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk:	https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773
URL zu dieser Seite:	https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/108
Zitationshilfe:	Herder, Johann Gottfried von: Von Deutscher Art und Kunst. Hamburg, 1773, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_artundkunst_1773/108>, abgerufen am 28.11.2024.

Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer Creative-Commons-Lizenz. Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken. Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.

Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.

2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de.

Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.