Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435.nichts weniger als ein deutscher Ossian gehoffet u.f. Treflich Alles in der Ferne! Wenn da auf einmal ein Macpherson in Tyrol oder in Baiern aufstünde, und uns da so einen deutschen Ossian sänge, ginge es hin, so weit liessen wir uns etwa noch mit ziehen. Nun aber wären diese Gesänge in einer Sprache, wie sie nach Analogie der schilterschen Sammlung nothwendig seyn müsten; müsten sie, weil vor Ottfried alles undisziplinirte Sprache war, als lebendiger Gesang im Munde der Barden erst buchstabirt, als eine Zaubergestalt voriger Zeiten im Spiegel der Glossatoren studirt werden, ohne das sie so wenig als Ulphila's Evangelien in unsern Kirchen Wunder thun könnten; wie viel Lobredner und Jünger würden stracks zurückgehen und sagen: "ich kenne euch nicht! Ich hatte mir so einen klassischen Ossian vermutet!" Sage ich unrecht, oder ist nicht das Exempel völlig da gewesen? Als der manessische Kodex ans Licht kam: welch ein Schaz von deutscher Sprache, Dichtung, Liebe und Freude erschien in diesen Dichtern des schwäbischen Zeitalters! Wenn die Namen Schöpflin und Bodmer auch kein Verdienst mehr hätten: so müste sie dieser Fund und den lezten die Mühe, die er sich gab, der Eifer, den er bewies, der Nazion lieb und theuer machen. Hat indessen wohl diese Sammlung alter Vaterlandsgedichte die Wirkung gemacht, die sie machen sollte? Wäre Bodmer ein Abt Millot, der den Säklenfleiß seines Cürne de St. Palage in einer histoire literaire des Troubadours nach gefälligstem Auszuge hat verwandeln wollen; vielleicht wäre er weiter umher gekommen, als izt, da er den Schaz selbst gab und uns zutraute, daß wir uns nach dem Bissen schwäbischer Sprache leicht hinauf bemühen würden. Er hat sich geirrt: wir sollen von unsrer klassischen Sprache weg, sollen noch ein ander Deutsch lernen, um einige Liebesdichter zu lesen - das ist zu viel! Und so sind diese Gedichte nur etwa durch den Einigen Gleim in Nachbildung, wenig andre durch Uebersezung recht unter die Nazion gekommen: Der Schaz nichts weniger als ein deutscher Ossian gehoffet u.f. Treflich Alles in der Ferne! Wenn da auf einmal ein Macpherson in Tyrol oder in Baiern aufstünde, und uns da so einen deutschen Ossian sänge, ginge es hin, so weit liessen wir uns etwa noch mit ziehen. Nun aber wären diese Gesänge in einer Sprache, wie sie nach Analogie der schilterschen Sammlung nothwendig seyn müsten; müsten sie, weil vor Ottfried alles undisziplinirte Sprache war, als lebendiger Gesang im Munde der Barden erst buchstabirt, als eine Zaubergestalt voriger Zeiten im Spiegel der Glossatoren studirt werden, ohne das sie so wenig als Ulphila's Evangelien in unsern Kirchen Wunder thun könnten; wie viel Lobredner und Jünger würden stracks zurückgehen und sagen: "ich kenne euch nicht! Ich hatte mir so einen klassischen Ossian vermutet!" Sage ich unrecht, oder ist nicht das Exempel völlig da gewesen? Als der manessische Kodex ans Licht kam: welch ein Schaz von deutscher Sprache, Dichtung, Liebe und Freude erschien in diesen Dichtern des schwäbischen Zeitalters! Wenn die Namen Schöpflin und Bodmer auch kein Verdienst mehr hätten: so müste sie dieser Fund und den lezten die Mühe, die er sich gab, der Eifer, den er bewies, der Nazion lieb und theuer machen. Hat indessen wohl diese Sammlung alter Vaterlandsgedichte die Wirkung gemacht, die sie machen sollte? Wäre Bodmer ein Abt Millot, der den Säklenfleiß seines Cürne de St. Palage in einer histoire literaire des Troubadours nach gefälligstem Auszuge hat verwandeln wollen; vielleicht wäre er weiter umher gekommen, als izt, da er den Schaz selbst gab und uns zutraute, daß wir uns nach dem Bissen schwäbischer Sprache leicht hinauf bemühen würden. Er hat sich geirrt: wir sollen von unsrer klassischen Sprache weg, sollen noch ein ander Deutsch lernen, um einige Liebesdichter zu lesen – das ist zu viel! Und so sind diese Gedichte nur etwa durch den Einigen Gleim in Nachbildung, wenig andre durch Uebersezung recht unter die Nazion gekommen: Der Schaz <TEI> <text> <body> <div> <p><pb facs="#f0008" n="427"/> nichts weniger als ein deutscher <hi rendition="#fr">Ossian</hi> gehoffet u.f. Treflich Alles in der Ferne! 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Sage ich unrecht, oder ist nicht das Exempel völlig da gewesen? Als der manessische Kodex ans Licht kam: welch ein Schaz von deutscher Sprache, Dichtung, Liebe und Freude erschien in diesen Dichtern des schwäbischen Zeitalters! Wenn die Namen Schöpflin und Bodmer auch kein Verdienst mehr hätten: so müste sie dieser Fund und den lezten die Mühe, die er sich gab, der Eifer, den er bewies, der Nazion lieb und theuer machen. Hat indessen wohl diese Sammlung alter Vaterlandsgedichte die Wirkung gemacht, die sie machen sollte? Wäre Bodmer ein Abt Millot, der den Säklenfleiß seines Cürne de St. Palage in einer histoire literaire des Troubadours nach gefälligstem Auszuge hat verwandeln wollen; vielleicht wäre er weiter umher gekommen, als izt, da er den Schaz selbst gab und uns zutraute, daß wir uns nach dem Bissen schwäbischer Sprache leicht hinauf bemühen würden. Er hat sich geirrt: wir sollen von unsrer klassischen Sprache weg, sollen noch ein ander Deutsch lernen, um einige Liebesdichter zu lesen – das ist zu viel! Und so sind diese Gedichte nur etwa durch den Einigen Gleim in Nachbildung, wenig andre durch Uebersezung recht unter die Nazion gekommen: Der Schaz
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Zitationshilfe: | Herder, Johann Gottfried von: Von der Ähnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst. In: Deutsches Museum. Bd. 2, Stück 11 (1777), S. 421–435, hier S. 427. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_aehnlichkeit_1777/8>, abgerufen am 16.02.2025. |