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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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keit -- Wo ist da bloße Fähigkeit? Wo abgesonderte
Vernunftkraft? Es ist die positive einzige Kraft
der Seele, die in solcher Anlage würket -- mehr
sinnlich, so weniger vernünftig: vernünftiger, so
minder lebhaft: heller, so minder dunkel -- das
versteht sich ja alles! Aber der sinnlichste Zustand
des Menschen war noch Menschlich, und also würkte
in ihm noch immer Besonnenheit, nur im minder
merklichen Grade: und der am wenigsten sinnliche
Zustand der Thiere war noch thierisch, und also
würkte bei aller Klarheit ihrer Gedanken nie Be-
sonnenheit eines menschlichen Begrifs. Und wei-
ter lasset uns nicht mit Worten spielen! --

Es thut mir leid, daß ich so viele Zeit verloh-
ren habe, erst bloße Begriffe zu bestimmen und
zu ordnen; allein der Verlust war nöthig, da die-
ser ganze Theil der Psychologie in den neuern Zei-
ten so jämmerlich verwüstet da liegt: da französi-
sche Philosophen über einige anscheinende Sonder-
barkeiten in der thierischen und menschlichen Na-
tur, alles so über- und untereinander geworfen,
und deutsche Philosophen die meisten Begriffe die-
ser Art mehr für ihr System, und nach ihrem Se-

hepunkt
D 2

keit — Wo iſt da bloße Faͤhigkeit? Wo abgeſonderte
Vernunftkraft? Es iſt die poſitive einzige Kraft
der Seele, die in ſolcher Anlage wuͤrket — mehr
ſinnlich, ſo weniger vernuͤnftig: vernuͤnftiger, ſo
minder lebhaft: heller, ſo minder dunkel — das
verſteht ſich ja alles! Aber der ſinnlichſte Zuſtand
des Menſchen war noch Menſchlich, und alſo wuͤrkte
in ihm noch immer Beſonnenheit, nur im minder
merklichen Grade: und der am wenigſten ſinnliche
Zuſtand der Thiere war noch thieriſch, und alſo
wuͤrkte bei aller Klarheit ihrer Gedanken nie Be-
ſonnenheit eines menſchlichen Begrifs. Und wei-
ter laſſet uns nicht mit Worten ſpielen! —

Es thut mir leid, daß ich ſo viele Zeit verloh-
ren habe, erſt bloße Begriffe zu beſtimmen und
zu ordnen; allein der Verluſt war noͤthig, da die-
ſer ganze Theil der Pſychologie in den neuern Zei-
ten ſo jaͤmmerlich verwuͤſtet da liegt: da franzoͤſi-
ſche Philoſophen uͤber einige anſcheinende Sonder-
barkeiten in der thieriſchen und menſchlichen Na-
tur, alles ſo uͤber- und untereinander geworfen,
und deutſche Philoſophen die meiſten Begriffe die-
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hepunkt
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[51/0057] keit — Wo iſt da bloße Faͤhigkeit? Wo abgeſonderte Vernunftkraft? Es iſt die poſitive einzige Kraft der Seele, die in ſolcher Anlage wuͤrket — mehr ſinnlich, ſo weniger vernuͤnftig: vernuͤnftiger, ſo minder lebhaft: heller, ſo minder dunkel — das verſteht ſich ja alles! Aber der ſinnlichſte Zuſtand des Menſchen war noch Menſchlich, und alſo wuͤrkte in ihm noch immer Beſonnenheit, nur im minder merklichen Grade: und der am wenigſten ſinnliche Zuſtand der Thiere war noch thieriſch, und alſo wuͤrkte bei aller Klarheit ihrer Gedanken nie Be- ſonnenheit eines menſchlichen Begrifs. Und wei- ter laſſet uns nicht mit Worten ſpielen! — Es thut mir leid, daß ich ſo viele Zeit verloh- ren habe, erſt bloße Begriffe zu beſtimmen und zu ordnen; allein der Verluſt war noͤthig, da die- ſer ganze Theil der Pſychologie in den neuern Zei- ten ſo jaͤmmerlich verwuͤſtet da liegt: da franzoͤſi- ſche Philoſophen uͤber einige anſcheinende Sonder- barkeiten in der thieriſchen und menſchlichen Na- tur, alles ſo uͤber- und untereinander geworfen, und deutſche Philoſophen die meiſten Begriffe die- ſer Art mehr fuͤr ihr Syſtem, und nach ihrem Se- hepunkt D 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/57>, abgerufen am 24.11.2024.