Aber ich kann nicht meine Verwunderung ber- gen, daß Philosophen, das ist, Leute, die deut- liche Begriffe suchen, je haben auf den Gedanken kommen können, aus diesem Geschrei der Empfin- dungen den Ursprung menschlicher Sprache zu er- klären: denn ist diese nicht offenbar ganz etwas an- ders? Alle Thiere, bis auf den stummen Fisch, tönen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch kein Thier, selbst nicht das vollkommenste, den ge- ringsten, eigentlichen Anfang zu einer menschlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organi- sire dies Geschrei, wie man wolle; wenn kein Verstand dazu kommt, diesen Ton mit Absicht zu brauchen: so sehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgesetz je menschliche, willkührliche Sprache werde? Kinder sprechen Schälle der Empfindung, wie die Thiere; ist aber die Sprache, die sie von Menschen lernen, nicht ganz eine andre Sprache?
Der Abt Condillac*) ist in dieser Anzahl. Entweder er hat das ganze Ding Sprache schon vor der ersten Seite seines Buchs erfunden vor-
aus-
*)Essai sur l'origine des connoissances humaines, Vol. 11.
Aber ich kann nicht meine Verwunderung ber- gen, daß Philoſophen, das iſt, Leute, die deut- liche Begriffe ſuchen, je haben auf den Gedanken kommen koͤnnen, aus dieſem Geſchrei der Empfin- dungen den Urſprung menſchlicher Sprache zu er- klaͤren: denn iſt dieſe nicht offenbar ganz etwas an- ders? Alle Thiere, bis auf den ſtummen Fiſch, toͤnen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch kein Thier, ſelbſt nicht das vollkommenſte, den ge- ringſten, eigentlichen Anfang zu einer menſchlichen Sprache. Man bilde und verfeinere und organi- ſire dies Geſchrei, wie man wolle; wenn kein Verſtand dazu kommt, dieſen Ton mit Abſicht zu brauchen: ſo ſehe ich nicht, wie nach dem vorigen Naturgeſetz je menſchliche, willkuͤhrliche Sprache werde? Kinder ſprechen Schaͤlle der Empfindung, wie die Thiere; iſt aber die Sprache, die ſie von Menſchen lernen, nicht ganz eine andre Sprache?
Der Abt Condillac*) iſt in dieſer Anzahl. Entweder er hat das ganze Ding Sprache ſchon vor der erſten Seite ſeines Buchs erfunden vor-
aus-
*)Eſſai ſur l’origine des connoiſſances humaines, Vol. 11.
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Aber ich kann nicht meine Verwunderung ber-
gen, daß Philoſophen, das iſt, Leute, die deut-
liche Begriffe ſuchen, je haben auf den Gedanken
kommen koͤnnen, aus dieſem Geſchrei der Empfin-
dungen den Urſprung menſchlicher Sprache zu er-
klaͤren: denn iſt dieſe nicht offenbar ganz etwas an-
ders? Alle Thiere, bis auf den ſtummen Fiſch,
toͤnen ihre Empfindung; deswegen aber hat doch
kein Thier, ſelbſt nicht das vollkommenſte, den ge-
ringſten, eigentlichen Anfang zu einer menſchlichen
Sprache. Man bilde und verfeinere und organi-
ſire dies Geſchrei, wie man wolle; wenn kein
Verſtand dazu kommt, dieſen Ton mit Abſicht zu
brauchen: ſo ſehe ich nicht, wie nach dem vorigen
Naturgeſetz je menſchliche, willkuͤhrliche Sprache
werde? Kinder ſprechen Schaͤlle der Empfindung,
wie die Thiere; iſt aber die Sprache, die ſie von
Menſchen lernen, nicht ganz eine andre Sprache?
Der Abt Condillac *) iſt in dieſer Anzahl.
Entweder er hat das ganze Ding Sprache ſchon
vor der erſten Seite ſeines Buchs erfunden vor-
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*) Eſſai ſur l’origine des connoiſſances humaines, Vol. 11.
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/30>, abgerufen am 03.07.2024.
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