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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

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in der Welt wären, die gar nichts vom Geist der
Sprache sagten und in ihrer ganzen Bauart
offenbar bekennen, daß sie nichts davon sagen
wollen -- --

Es verdiente diese Buchstabenhypothese freilich
ihrer Würde nach nur Einen Wink: aber ihrer
Allgemeinheit und mannichfaltigen Beschönigung
wegen, muste ich ihren Ungrund entblößen, und
in ihm sie zugleich erklären, wie mir wenigstens
keine Erklärung bekannt ist. Zurück auf unsre
Bahn:

Da unsre Töne der Natur zum Ausdrucke der
Leidenschaft bestimmt sind, so ists natürlich, daß
sie auch die Elemente aller Rübrung werden!

Wer ists, dem bei einem zuckenden, wimmern-
den Gequälten, bei einem ächzenden Sterbenden,
auch selbst bei einem stöhnenden Vieh, wenn seine
ganze Maschiene leidet, dies Ach, nicht zu Herzen
dringe? -- Wer ist der fühllose Barbar? Je
harmonischer das empfindsame Saitenspiel selbst
bei Thieren mit andern Thieren gewebt ist: desto
mehr fühlen selbst diese mit einander; ihre Nerven
kommen in eine gleichmäßige Spannung, ihre

Seele
B 2

in der Welt waͤren, die gar nichts vom Geiſt der
Sprache ſagten und in ihrer ganzen Bauart
offenbar bekennen, daß ſie nichts davon ſagen
wollen — —

Es verdiente dieſe Buchſtabenhypotheſe freilich
ihrer Wuͤrde nach nur Einen Wink: aber ihrer
Allgemeinheit und mannichfaltigen Beſchoͤnigung
wegen, muſte ich ihren Ungrund entbloͤßen, und
in ihm ſie zugleich erklaͤren, wie mir wenigſtens
keine Erklaͤrung bekannt iſt. Zuruͤck auf unſre
Bahn:

Da unſre Toͤne der Natur zum Ausdrucke der
Leidenſchaft beſtimmt ſind, ſo iſts natuͤrlich, daß
ſie auch die Elemente aller Ruͤbrung werden!

Wer iſts, dem bei einem zuckenden, wimmern-
den Gequaͤlten, bei einem aͤchzenden Sterbenden,
auch ſelbſt bei einem ſtoͤhnenden Vieh, wenn ſeine
ganze Maſchiene leidet, dies Ach, nicht zu Herzen
dringe? — Wer iſt der fuͤhlloſe Barbar? Je
harmoniſcher das empfindſame Saitenſpiel ſelbſt
bei Thieren mit andern Thieren gewebt iſt: deſto
mehr fuͤhlen ſelbſt dieſe mit einander; ihre Nerven
kommen in eine gleichmaͤßige Spannung, ihre

Seele
B 2
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[19/0025] in der Welt waͤren, die gar nichts vom Geiſt der Sprache ſagten und in ihrer ganzen Bauart offenbar bekennen, daß ſie nichts davon ſagen wollen — — Es verdiente dieſe Buchſtabenhypotheſe freilich ihrer Wuͤrde nach nur Einen Wink: aber ihrer Allgemeinheit und mannichfaltigen Beſchoͤnigung wegen, muſte ich ihren Ungrund entbloͤßen, und in ihm ſie zugleich erklaͤren, wie mir wenigſtens keine Erklaͤrung bekannt iſt. Zuruͤck auf unſre Bahn: Da unſre Toͤne der Natur zum Ausdrucke der Leidenſchaft beſtimmt ſind, ſo iſts natuͤrlich, daß ſie auch die Elemente aller Ruͤbrung werden! Wer iſts, dem bei einem zuckenden, wimmern- den Gequaͤlten, bei einem aͤchzenden Sterbenden, auch ſelbſt bei einem ſtoͤhnenden Vieh, wenn ſeine ganze Maſchiene leidet, dies Ach, nicht zu Herzen dringe? — Wer iſt der fuͤhlloſe Barbar? Je harmoniſcher das empfindſame Saitenſpiel ſelbſt bei Thieren mit andern Thieren gewebt iſt: deſto mehr fuͤhlen ſelbſt dieſe mit einander; ihre Nerven kommen in eine gleichmaͤßige Spannung, ihre Seele B 2

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Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/25>, abgerufen am 22.11.2024.