lich gar nicht geschrieben würden? Diese Schreib- art ist dem Lauf der gesunden Vernunft so entge- gen, das Unwesentliche zu schreiben, und das We- sentliche auszulassen, daß sie den Grammatikern unbegreiflich seyn müste, wenn Grammatiker zu begreifen gewohnt wären. Bei uns sind die Vo- kale das Erste und Lebendigste und die Thürangeln der Sprache; bei jenen werden sie nicht geschrie- ben -- Warum? -- Weil sie nicht geschrieben werden konnten. Jhre Aussprache war so lebendig und feinorganisirt, ihr Hauch war so geistig und aetherisch, daß er verduftete, und sich nicht in Buchstaben fassen ließ. Nur erst bei den Grie- chen wurden diese lebendige Aspirationen in förm- liche Vokale aufgefädelt, denen doch noch Spiri- tus u. s. w. zu Hülfe kommen musten; da bei den Morgenländern die Rede gleichsam ganz Spiritus, fortgehender Hauch und Geist des Mundes war, wie sie sie auch so oft in ihren malenden Gedichten benennen. Es war Othem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaschete, und die todten Buchsta- ben, die sie hinmaleten, waren nur der Leichnam, der lesend mit Lebensgeist beseelet werden muste.
Was
B
lich gar nicht geſchrieben wuͤrden? Dieſe Schreib- art iſt dem Lauf der geſunden Vernunft ſo entge- gen, das Unweſentliche zu ſchreiben, und das We- ſentliche auszulaſſen, daß ſie den Grammatikern unbegreiflich ſeyn muͤſte, wenn Grammatiker zu begreifen gewohnt waͤren. Bei uns ſind die Vo- kale das Erſte und Lebendigſte und die Thuͤrangeln der Sprache; bei jenen werden ſie nicht geſchrie- ben — Warum? — Weil ſie nicht geſchrieben werden konnten. Jhre Ausſprache war ſo lebendig und feinorganiſirt, ihr Hauch war ſo geiſtig und aetheriſch, daß er verduftete, und ſich nicht in Buchſtaben faſſen ließ. Nur erſt bei den Grie- chen wurden dieſe lebendige Aſpirationen in foͤrm- liche Vokale aufgefaͤdelt, denen doch noch Spiri- tus u. ſ. w. zu Huͤlfe kommen muſten; da bei den Morgenlaͤndern die Rede gleichſam ganz Spiritus, fortgehender Hauch und Geiſt des Mundes war, wie ſie ſie auch ſo oft in ihren malenden Gedichten benennen. Es war Othem Gottes, wehende Luft, die das Ohr aufhaſchete, und die todten Buchſta- ben, die ſie hinmaleten, waren nur der Leichnam, der leſend mit Lebensgeiſt beſeelet werden muſte.
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lich gar nicht geſchrieben wuͤrden? Dieſe Schreib-
art iſt dem Lauf der geſunden Vernunft ſo entge-
gen, das Unweſentliche zu ſchreiben, und das We-
ſentliche auszulaſſen, daß ſie den Grammatikern
unbegreiflich ſeyn muͤſte, wenn Grammatiker zu
begreifen gewohnt waͤren. Bei uns ſind die Vo-
kale das Erſte und Lebendigſte und die Thuͤrangeln
der Sprache; bei jenen werden ſie nicht geſchrie-
ben — Warum? — Weil ſie nicht geſchrieben
werden konnten. Jhre Ausſprache war ſo lebendig
und feinorganiſirt, ihr Hauch war ſo geiſtig und
aetheriſch, daß er verduftete, und ſich nicht in
Buchſtaben faſſen ließ. Nur erſt bei den Grie-
chen wurden dieſe lebendige Aſpirationen in foͤrm-
liche Vokale aufgefaͤdelt, denen doch noch Spiri-
tus u. ſ. w. zu Huͤlfe kommen muſten; da bei den
Morgenlaͤndern die Rede gleichſam ganz Spiritus,
fortgehender Hauch und Geiſt des Mundes war,
wie ſie ſie auch ſo oft in ihren malenden Gedichten
benennen. Es war Othem Gottes, wehende Luft,
die das Ohr aufhaſchete, und die todten Buchſta-
ben, die ſie hinmaleten, waren nur der Leichnam,
der leſend mit Lebensgeiſt beſeelet werden muſte.
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/23>, abgerufen am 16.02.2025.
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