als ein Mensch, und das ganze menschliche Geschlecht mehr als ein einzelnes Volk er- finde; und das zwar nicht blos nach Menge der Köpfe, sondern nach vielfach- und innig vermehrtern Verhältnissen. Man sollte den- ken, daß ein einsamer Mensch, ohne drängende Bedürfnisse, mit aller Gemächlichkeit der Lebens- art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß seine Muße ihn dazu antreiben werde, seine Seelen- kräfte zu üben, mithin immer etwas neues zu er- denken u. s. w. Allein das Gegentheil ist klar. Er wird ohne Gesellschaft immer auf gewisse Weise verwildern, und bald in Unthätigkeit ermatten, wenn er sich nur erst in den Mittelpunkt gesezt hat, seine nöthigsten Bedürfnisse zu befriedigen. Er ist immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln gerissen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt und welkt -- -- sezt ihn in Gesellschaft und meh- rere Bedürfnisse: er habe für sich und andre zu sorgen; man sollte denken, diese neue Lasten neh- men ihm die Freiheit sich empor zu heben; dieser Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin- den; aber gerade umgekehrt. Das Bedürfniß strengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die Rastlosigkeit hält seine Seele in Bewegung: er wird desto mehr thun, je wundersamer es wird, daß ers thue. So wächst also die Fortbildung
einer
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als ein Menſch, und das ganze menſchliche Geſchlecht mehr als ein einzelnes Volk er- finde; und das zwar nicht blos nach Menge der Koͤpfe, ſondern nach vielfach- und innig vermehrtern Verhaͤltniſſen. Man ſollte den- ken, daß ein einſamer Menſch, ohne draͤngende Beduͤrfniſſe, mit aller Gemaͤchlichkeit der Lebens- art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß ſeine Muße ihn dazu antreiben werde, ſeine Seelen- kraͤfte zu uͤben, mithin immer etwas neues zu er- denken u. ſ. w. Allein das Gegentheil iſt klar. Er wird ohne Geſellſchaft immer auf gewiſſe Weiſe verwildern, und bald in Unthaͤtigkeit ermatten, wenn er ſich nur erſt in den Mittelpunkt geſezt hat, ſeine noͤthigſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen. Er iſt immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln geriſſen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt und welkt — — ſezt ihn in Geſellſchaft und meh- rere Beduͤrfniſſe: er habe fuͤr ſich und andre zu ſorgen; man ſollte denken, dieſe neue Laſten neh- men ihm die Freiheit ſich empor zu heben; dieſer Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin- den; aber gerade umgekehrt. Das Beduͤrfniß ſtrengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die Raſtloſigkeit haͤlt ſeine Seele in Bewegung: er wird deſto mehr thun, je wunderſamer es wird, daß ers thue. So waͤchſt alſo die Fortbildung
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als ein Menſch, und das ganze menſchliche
Geſchlecht mehr als ein einzelnes Volk er-
finde; und das zwar nicht blos nach Menge
der Koͤpfe, ſondern nach vielfach- und innig
vermehrtern Verhaͤltniſſen. Man ſollte den-
ken, daß ein einſamer Menſch, ohne draͤngende
Beduͤrfniſſe, mit aller Gemaͤchlichkeit der Lebens-
art z. E. vielmehr Sprache erfinden; daß ſeine
Muße ihn dazu antreiben werde, ſeine Seelen-
kraͤfte zu uͤben, mithin immer etwas neues zu er-
denken u. ſ. w. Allein das Gegentheil iſt klar.
Er wird ohne Geſellſchaft immer auf gewiſſe Weiſe
verwildern, und bald in Unthaͤtigkeit ermatten,
wenn er ſich nur erſt in den Mittelpunkt geſezt
hat, ſeine noͤthigſten Beduͤrfniſſe zu befriedigen.
Er iſt immer eine Blume, die aus ihren Wurzeln
geriſſen, von ihrem Stamm gebrochen, da liegt
und welkt — — ſezt ihn in Geſellſchaft und meh-
rere Beduͤrfniſſe: er habe fuͤr ſich und andre zu
ſorgen; man ſollte denken, dieſe neue Laſten neh-
men ihm die Freiheit ſich empor zu heben; dieſer
Zuwachs von Peinlichkeiten, die Muße zu erfin-
den; aber gerade umgekehrt. Das Beduͤrfniß
ſtrengt ihn an: die Peinlichkeit wekt ihn: die
Raſtloſigkeit haͤlt ſeine Seele in Bewegung: er
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 213. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/219>, abgerufen am 16.02.2025.
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