das Faktum ist falsch, und der Schluß noch un- richtiger. Keine einzige lebendigtönende Sprache läßt sich vollständig in Buchstaben bringen, und noch weniger in zwanzig Buchstaben: dies zeugen alle Sprachen sämtlich und sonders. Die Artiku- lationen unsrer Sprachwerkzeuge sind so viel; Ein jeder Laut wird auf so mannichfaltige Weise ausge- sprochen, daß z. E. Herr Lambert im zweiten Theil seines Organon mit Recht hat zeigen kön- nen, "wie weit weniger wir Buchstaben, als Laute "haben," und "wie unbestimmt also diese von je- "nen ausgedrückt werden können." Und das ist doch nur aus der deutschen Sprache gezeiget, die die Vieltönigkeit und den Unterschied ihrer Dialekte noch nicht einmal in eine Schriftsprache aufgenom- men hat; vielweniger wo die ganze Sprache nichts als solch ein lebendiger Dialekt ist? Woher rühren alle Eigenheiten und Sonderbarkeiten der Ortho- graphie, als wegen der Unbehülflichkeit zu schrei- ben, wie man spricht? Welche lebendige Sprache läßt sich, ihren Tönen nach, aus Bücherbuchstaben lernen? Und welche todte Sprache daher aufwe- cken? -- -- Je lebendiger nun eine Sprache ist,
je
das Faktum iſt falſch, und der Schluß noch un- richtiger. Keine einzige lebendigtoͤnende Sprache laͤßt ſich vollſtaͤndig in Buchſtaben bringen, und noch weniger in zwanzig Buchſtaben: dies zeugen alle Sprachen ſaͤmtlich und ſonders. Die Artiku- lationen unſrer Sprachwerkzeuge ſind ſo viel; Ein jeder Laut wird auf ſo mannichfaltige Weiſe ausge- ſprochen, daß z. E. Herr Lambert im zweiten Theil ſeines Organon mit Recht hat zeigen koͤn- nen, „wie weit weniger wir Buchſtaben, als Laute „haben,„ und „wie unbeſtimmt alſo dieſe von je- „nen ausgedruͤckt werden koͤnnen.„ Und das iſt doch nur aus der deutſchen Sprache gezeiget, die die Vieltoͤnigkeit und den Unterſchied ihrer Dialekte noch nicht einmal in eine Schriftſprache aufgenom- men hat; vielweniger wo die ganze Sprache nichts als ſolch ein lebendiger Dialekt iſt? Woher ruͤhren alle Eigenheiten und Sonderbarkeiten der Ortho- graphie, als wegen der Unbehuͤlflichkeit zu ſchrei- ben, wie man ſpricht? Welche lebendige Sprache laͤßt ſich, ihren Toͤnen nach, aus Buͤcherbuchſtaben lernen? Und welche todte Sprache daher aufwe- cken? — — Je lebendiger nun eine Sprache iſt,
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das Faktum iſt falſch, und der Schluß noch un-
richtiger. Keine einzige lebendigtoͤnende Sprache
laͤßt ſich vollſtaͤndig in Buchſtaben bringen, und
noch weniger in zwanzig Buchſtaben: dies zeugen
alle Sprachen ſaͤmtlich und ſonders. Die Artiku-
lationen unſrer Sprachwerkzeuge ſind ſo viel; Ein
jeder Laut wird auf ſo mannichfaltige Weiſe ausge-
ſprochen, daß z. E. Herr Lambert im zweiten
Theil ſeines Organon mit Recht hat zeigen koͤn-
nen, „wie weit weniger wir Buchſtaben, als Laute
„haben,„ und „wie unbeſtimmt alſo dieſe von je-
„nen ausgedruͤckt werden koͤnnen.„ Und das iſt
doch nur aus der deutſchen Sprache gezeiget, die
die Vieltoͤnigkeit und den Unterſchied ihrer Dialekte
noch nicht einmal in eine Schriftſprache aufgenom-
men hat; vielweniger wo die ganze Sprache nichts
als ſolch ein lebendiger Dialekt iſt? Woher ruͤhren
alle Eigenheiten und Sonderbarkeiten der Ortho-
graphie, als wegen der Unbehuͤlflichkeit zu ſchrei-
ben, wie man ſpricht? Welche lebendige Sprache
laͤßt ſich, ihren Toͤnen nach, aus Buͤcherbuchſtaben
lernen? Und welche todte Sprache daher aufwe-
cken? — — Je lebendiger nun eine Sprache iſt,
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 13. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/19>, abgerufen am 16.02.2025.
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