Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772.

Bild:
<< vorherige Seite

nehmen. Wem wird hiemit nicht "Haushaltung
der Natur zur Gesellung der Menschheit
"
vorleuchtend? und zwar die so unmittelbar, so
nahe am Jnstinkt, als es bei einem besonne-
nen
Geschöpf seyn konnte! --

Jch muß den lezten Punkt mehr entwickeln,
denn in ihm zeigt sich das Werk der Natur am au-
genscheinlichsten, und mein Schluß wird hieraus
um desto schneller. Wenn man alles, wie unsre
groben Epikuräer, aus blinder Wollust oder unmit-
telbarem Eigennutz erklären will -- wer kann das
Gefühl der Eltern gegen Kinder erklären? Und
die starken Bande, die dadurch bewürkt werden?
Siehe! dieser arme Erdbewohner kommt elend
auf die Welt, ohne zu wissen, daß er elend sey:
er ist der Erbarmung bedürftig, ohne daß er sich
ihrer im mindsten werth machen könnte: er wei-
net -- aber selbst dies Weinen mußte so beschwehr-
lich werden, als das Geheul des Philoktet, der
doch so viel Verdienste hatte, den Griechen, die
ihn der wüsten Jnsel übergaben. Hier muß-
ten also eben, nach unsrer kalten Philosophie die
Bande der Natur am ehesten reißen, wo sie am

stärk-

nehmen. Wem wird hiemit nicht „Haushaltung
der Natur zur Geſellung der Menſchheit

vorleuchtend? und zwar die ſo unmittelbar, ſo
nahe am Jnſtinkt, als es bei einem beſonne-
nen
Geſchoͤpf ſeyn konnte! —

Jch muß den lezten Punkt mehr entwickeln,
denn in ihm zeigt ſich das Werk der Natur am au-
genſcheinlichſten, und mein Schluß wird hieraus
um deſto ſchneller. Wenn man alles, wie unſre
groben Epikuraͤer, aus blinder Wolluſt oder unmit-
telbarem Eigennutz erklaͤren will — wer kann das
Gefuͤhl der Eltern gegen Kinder erklaͤren? Und
die ſtarken Bande, die dadurch bewuͤrkt werden?
Siehe! dieſer arme Erdbewohner kommt elend
auf die Welt, ohne zu wiſſen, daß er elend ſey:
er iſt der Erbarmung beduͤrftig, ohne daß er ſich
ihrer im mindſten werth machen koͤnnte: er wei-
net — aber ſelbſt dies Weinen mußte ſo beſchwehr-
lich werden, als das Geheul des Philoktet, der
doch ſo viel Verdienſte hatte, den Griechen, die
ihn der wuͤſten Jnſel uͤbergaben. Hier muß-
ten alſo eben, nach unſrer kalten Philoſophie die
Bande der Natur am eheſten reißen, wo ſie am

ſtaͤrk-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0178" n="172"/>
nehmen. Wem wird hiemit nicht &#x201E;<hi rendition="#fr">Haushaltung<lb/>
der Natur zur Ge&#x017F;ellung der Men&#x017F;chheit</hi>&#x201E;<lb/>
vorleuchtend? und zwar die &#x017F;o <hi rendition="#fr">unmittelbar,</hi> &#x017F;o<lb/><hi rendition="#fr">nahe am Jn&#x017F;tinkt,</hi> als es bei einem <hi rendition="#fr">be&#x017F;onne-<lb/>
nen</hi> Ge&#x017F;cho&#x0364;pf &#x017F;eyn konnte! &#x2014;</p><lb/>
          <p>Jch muß den lezten Punkt mehr entwickeln,<lb/>
denn in ihm zeigt &#x017F;ich das Werk der Natur am au-<lb/>
gen&#x017F;cheinlich&#x017F;ten, und mein Schluß wird hieraus<lb/>
um de&#x017F;to &#x017F;chneller. Wenn man alles, wie un&#x017F;re<lb/>
groben Epikura&#x0364;er, aus blinder Wollu&#x017F;t oder unmit-<lb/>
telbarem Eigennutz erkla&#x0364;ren will &#x2014; wer kann das<lb/>
Gefu&#x0364;hl der Eltern gegen Kinder erkla&#x0364;ren? Und<lb/>
die &#x017F;tarken Bande, die dadurch bewu&#x0364;rkt werden?<lb/>
Siehe! die&#x017F;er arme Erdbewohner kommt elend<lb/>
auf die Welt, ohne zu wi&#x017F;&#x017F;en, daß er elend &#x017F;ey:<lb/>
er i&#x017F;t der Erbarmung bedu&#x0364;rftig, ohne daß er &#x017F;ich<lb/>
ihrer im mind&#x017F;ten werth machen ko&#x0364;nnte: er wei-<lb/>
net &#x2014; aber &#x017F;elb&#x017F;t dies Weinen mußte &#x017F;o be&#x017F;chwehr-<lb/>
lich werden, als das Geheul des Philoktet, der<lb/>
doch &#x017F;o viel Verdien&#x017F;te hatte, den Griechen, die<lb/>
ihn der wu&#x0364;&#x017F;ten Jn&#x017F;el u&#x0364;bergaben. Hier muß-<lb/>
ten al&#x017F;o eben, nach un&#x017F;rer kalten Philo&#x017F;ophie die<lb/>
Bande der Natur am ehe&#x017F;ten <hi rendition="#fr">reißen,</hi> wo &#x017F;ie am<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;ta&#x0364;rk-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[172/0178] nehmen. Wem wird hiemit nicht „Haushaltung der Natur zur Geſellung der Menſchheit„ vorleuchtend? und zwar die ſo unmittelbar, ſo nahe am Jnſtinkt, als es bei einem beſonne- nen Geſchoͤpf ſeyn konnte! — Jch muß den lezten Punkt mehr entwickeln, denn in ihm zeigt ſich das Werk der Natur am au- genſcheinlichſten, und mein Schluß wird hieraus um deſto ſchneller. Wenn man alles, wie unſre groben Epikuraͤer, aus blinder Wolluſt oder unmit- telbarem Eigennutz erklaͤren will — wer kann das Gefuͤhl der Eltern gegen Kinder erklaͤren? Und die ſtarken Bande, die dadurch bewuͤrkt werden? Siehe! dieſer arme Erdbewohner kommt elend auf die Welt, ohne zu wiſſen, daß er elend ſey: er iſt der Erbarmung beduͤrftig, ohne daß er ſich ihrer im mindſten werth machen koͤnnte: er wei- net — aber ſelbſt dies Weinen mußte ſo beſchwehr- lich werden, als das Geheul des Philoktet, der doch ſo viel Verdienſte hatte, den Griechen, die ihn der wuͤſten Jnſel uͤbergaben. Hier muß- ten alſo eben, nach unſrer kalten Philoſophie die Bande der Natur am eheſten reißen, wo ſie am ſtaͤrk-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/178
Zitationshilfe: Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 172. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/178>, abgerufen am 22.11.2024.