irrender Vögel, kann leichter jenes Natur verstehen und das Geschrei dieser zu verstehen glauben, als wir in unsern Behausungen. Der Sohn des Wal- des, der Jäger, versteht die Stimme des Hirsches, und der Lappländer seines Rennthiers -- Doch alles das folgt oder ist Ausnahme. Eigentlich ist diese Sprache der Natur eine Völkersprache für jede Gattung unter sich, und so hat auch der Mensch die Seinige -- --
Nun sind freilich diese Töne sehr einfach; und wenn sie artikulirt, und als Jnterjektionen aufs Papier hinbuchstabiert werden; so haben die entgegengeseztesten Empfindungen fast Einen Aus- druck. Das matte Ach! ist sowohl Laut der zer- schmelzenden Liebe, als der sinkenden Verzweif- lung; das feurige O! sowohl Ausbruch der plöz- lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der stei- genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam- merns; allein sind denn diese Laute da, um als Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden? Die Thräne, die in diesem trüben, erloschnen, nach Trost schmachtenden Auge schwimmt -- wie rührend ist sie im ganzen Gemälde des Antlitzes
der
irrender Voͤgel, kann leichter jenes Natur verſtehen und das Geſchrei dieſer zu verſtehen glauben, als wir in unſern Behauſungen. Der Sohn des Wal- des, der Jaͤger, verſteht die Stimme des Hirſches, und der Lapplaͤnder ſeines Rennthiers — Doch alles das folgt oder iſt Ausnahme. Eigentlich iſt dieſe Sprache der Natur eine Voͤlkerſprache fuͤr jede Gattung unter ſich, und ſo hat auch der Menſch die Seinige — —
Nun ſind freilich dieſe Toͤne ſehr einfach; und wenn ſie artikulirt, und als Jnterjektionen aufs Papier hinbuchſtabiert werden; ſo haben die entgegengeſezteſten Empfindungen faſt Einen Aus- druck. Das matte Ach! iſt ſowohl Laut der zer- ſchmelzenden Liebe, als der ſinkenden Verzweif- lung; das feurige O! ſowohl Ausbruch der ploͤz- lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der ſtei- genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam- merns; allein ſind denn dieſe Laute da, um als Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden? Die Thraͤne, die in dieſem truͤben, erloſchnen, nach Troſt ſchmachtenden Auge ſchwimmt — wie ruͤhrend iſt ſie im ganzen Gemaͤlde des Antlitzes
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irrender Voͤgel, kann leichter jenes Natur verſtehen
und das Geſchrei dieſer zu verſtehen glauben, als
wir in unſern Behauſungen. Der Sohn des Wal-
des, der Jaͤger, verſteht die Stimme des Hirſches,
und der Lapplaͤnder ſeines Rennthiers — Doch
alles das folgt oder iſt Ausnahme. Eigentlich iſt
dieſe Sprache der Natur eine Voͤlkerſprache
fuͤr jede Gattung unter ſich, und ſo hat auch
der Menſch die Seinige — —
Nun ſind freilich dieſe Toͤne ſehr einfach;
und wenn ſie artikulirt, und als Jnterjektionen
aufs Papier hinbuchſtabiert werden; ſo haben die
entgegengeſezteſten Empfindungen faſt Einen Aus-
druck. Das matte Ach! iſt ſowohl Laut der zer-
ſchmelzenden Liebe, als der ſinkenden Verzweif-
lung; das feurige O! ſowohl Ausbruch der ploͤz-
lichen Freude, als der auffahrenden Wuth; der ſtei-
genden Bewunderung, als des zuwallenden Bejam-
merns; allein ſind denn dieſe Laute da, um als
Jnterjektionen aufs Papier gemahlt zu werden?
Die Thraͤne, die in dieſem truͤben, erloſchnen,
nach Troſt ſchmachtenden Auge ſchwimmt — wie
ruͤhrend iſt ſie im ganzen Gemaͤlde des Antlitzes
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Herder, Johann Gottfried von: Abhandlung über den Ursprung der Sprache. Berlin, 1772, S. 8. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/herder_abhandlung_1772/14>, abgerufen am 16.02.2025.
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